Der Tempelmord
Weg führte sie bis zur Mitte des Hügels hinter dem Tempel. Dort war an einer windgeschützten Stelle, auf einem schmalen Plateau, das sich dicht an den Fels schmiegte, ein Scheiterhaufen errichtet worden.
Samu legte den Kopf des Mundschenks auf den Holzstoß und untersuchte den Scheiterhaufen im zitternden Licht der Öllampe. Er war sorgfältig aus langen Bohlen geschichtet, zwischen die man Lagen aus Reisig und Stroh gebettet hatte. Der Scheiterhaufen würde lange brennen, und wenn die Priesterinnen der Artemis später die spärlichen Reste des Toten aus der kalten Asche heraussuchten, würde niemand mehr erkennen können, daß Kopf und Körper zuletzt wieder vereint waren.
»Leg ihn ab!« kommandierte Samu barsch. Sie wäre froh, wenn alles vorbei wäre. Der Nubier gehorchte ihr stumm.
Gemeinsam drapierten sie das Gewand des Verstorbenen. Auf seiner letzten Reise sollte er so ordentlich aussehen, wie er es stets zu Lebzeiten gewesen war. Ein unauffälliger Höfling in gestärkten und gebleichten Leinengewändern. Sorgfältig geschminkt und stets eine tadellos sitzende Perücke auf dem Kopf.
Der Kopf! Es kostete Samu einige Überwindung, ihn aus den besudelten Leinentüchern zu wickeln. Die Perücke des Toten war halb von seinem glattrasierten Schädel gerutscht. Vorsichtig richtete Samu sie und strich dem Toten das strähnige Haar aus dem Gesicht. Was bei den Göttern mochte er nur getan haben, daß die Unsterblichen ihm ein so unwürdiges Ende beschert hatten?
Batis hatte inzwischen das Öl aus der Amphore, die er mitgebracht hatte, über den Scheiterhaufen geschüttet. Ein Funken würde jetzt ausreichen, das Holz wie eine pechgetränkte Fackel auflodern zu lassen.
»Glaubst du, er wird nicht mehr zurückkehren?« flüsterte Batis.
Samu zuckte mit den Schultern. »Wer weiß?« Unschlüssig blickte sie auf die kleine Flamme der Öllampe. Was würde geschehen, wenn Buphagos der Weg in den Hades verstellt bliebe, weil Batis Thanatos verärgert hatte? Würde womöglich der Geist des Toten zurückkehren und dann auch sie quälen? Immerhin hatte der Nubier sie tief in diese Angelegenheit hineingezogen. Hätte man den Mundschenk nach den alten, überlieferten Ritualen einbalsamiert und in einem prächtigen Sarg beigesetzt, so wie es früher am Hof der Pharaonen üblich war, dann könnte sie sicher sein, daß er nicht wiederkehren würde. Aber so? Es war besser, einen der mächtigen Zauber des Totenbuches über Buphagos zu sprechen. Sie streckte ihre Hand aus und legte die gespreizten Finger auf das kalte Gesicht.
»Schwalben wecken dich auf, der du schläfst, sie heben dein Haupt empor zum Horizont.
Richte dich auf, damit du über das triumphierst, was dir angetan wurde!
Ptath hat deine Feinde zu Fall gebracht, und es soll gegen den vorgegangen werden, der gegen dich vorging.
Du bist Horus, Sohn der Hathor, der Feurigen, die zum Feuer gehört, dem sein Kopf zurückgegeben wurde, nachdem er abgeschnitten war.
Fortan kann dir dein Kopf nicht mehr genommen werden, dein Kopf bleibt bei dir bis in Ewigkeit!«
Samu blickte ein letztes Mal in das Gesicht des Toten, dann trat sie ein Stück vom Scheiterhaufen zurück und hielt mit ausgestrecktem Arm die Flamme der Lampe an
einen der ölgetränkten Balken. Langsam züngelte die kleine gelbe Flamme das Holz hinauf und tanzte unsicher auf dem grobbehauenen Balken, so als wolle sie zum Docht der Öllampe zurückspringen. Erst als sie Reisig und Stroh erreichte, begann sie sich schneller auszubreiten und auch nach den Kleidern des Toten zu greifen.
Samu blickte zu Batis hinüber. Der Nubier war leise murmelnd in ein Gebet versunken. Er hatte den Kopf geneigt und wirkte plötzlich kleiner, als er ihr früher erschienen war. Vom selbstbewußten, überheblichen Krieger schien nichts mehr übriggeblieben zu sein. Jedenfalls für den Moment nicht. Sie streckte die Hand nach ihm aus und berührte ihn sanft am Oberarm. Erschrocken zuckte er hoch und blickte sie dann verstört mit seinen großen Augen an.
»Komm, laß uns gehen! Buphagos weilt jetzt nicht mehr in dieser Welt, und wir sollten besser nicht neben dem Scheiterhaufen gesehen werden.«
4. KAPITEL
P hilippos schreckte aus dem Schlaf auf und tastete unruhig neben sich. Er war allein. Dunkel erinnerte er sich, wie er Neaira verlassen hatte und zum Tempel zurückgekehrt war. Den ganzen Rückweg über hatte er das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden. Selbst im Traum hatte man ihn noch gejagt. Er war auf
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