Der Teratologe (German Edition)

Engels von überall her zu kommen, nur nicht aus seinem Mund. »Die Wahrheit ist immer von Bedeutung …«
    Westmore knirschte mit den Zähnen, Tränen flossen aus seinen Augenwinkeln.
    »Und so ist es dem verkrüppelten Jungen von damals ergangen. Sieh es dir an. Schau ganz genau hin …«
    Das Büro einer Führungskraft. Ein imposanter Schreibtisch. Plaketten, Urkunden und Auszeichnungen an den getäfelten Holzwänden. Auf dem Schreibtisch das gerahmte Foto einer glücklichen Familie.
    »Er verkörpert das, was du dir mehr als alles andere ersehnst. Erfolg, Respekt und Nächstenliebe. Er hat alles erreicht, worauf es im Leben ankommt. Du nicht.«
    Westmore fühlte sich wie der Passagier eines sinkenden Schiffes.
    Der Engel trat hastig zurück, als hätte ihn etwas verärgert. »Das sind Peanuts, Mann. Dein ganzes Leben ist eine Ansammlung von belanglosen Kleinigkeiten. Ich weiß gar nicht, warum ich mich überhaupt um dich kümmere.«
    »Und, warum kümmerst du dich?
    Wieder sein gezischtes Flüstern. »Weil wir dazu verdammt sind, sämtliche Geschöpfe Gottes zu lieben. Wir müssen sie lieben, so wie Jesus sie geliebt hat. Alles andere würde keinen Sinn ergeben. Du bist ein Arschloch, aber ich liebe dich trotzdem. Ihr seid alle Arschlöcher. Viele von uns sind wirklich angepisst von deiner Rasse. Viele von uns wurden rausgeschmissen.«
    »Was ist mit dir? Hat man dich auch rausgeschmissen?«
    »Nein. Ich lebe, um zu lieben und dem Herrn im Höchsten zu dienen. Ich bin auf ewig sein unwürdiger Diener.«
    Die Worte pulsierten sanft in der Luft. Wie kleine, fliegende Vögel.
    »Weil Gott recht hatte.« Der Engel deutete wieder auf seinen Kopf. »Es geht um das, was hier drin ist …« – und berührte seine Brust – »und was hier drin ist …« Dann deutete er auf die Fenster, »und was man dort draußen daraus macht. Das Leben ist ein Geschenk. Verkack es nicht. Du bist gerade auf dem besten Weg, es zu verkacken.«
    Westmore hörte der Uhr beim Ticken zu und starrte in die Schatten.
    Der Engel schnipste die Zigarette auf die Fliesen vor der Terrassentür. »Es ist euch nicht möglich, zu verstehen. Eure Gehirne sind nicht groß genug.«
    Er deutete erneut auf seinen Kopf und stupste ihn mit dem Finger an. »Ihr könnt nicht … nachdenken. Ihr könnt nicht … glauben. Euch fehlen die Kapazitäten, um es zu verarbeiten, Mann. Deshalb flüstern wir in Rätseln zu euch, die die Zeit bewahrt. Deshalb treten wir in Form von Mythen und Legenden in Erscheinung. Aus diesem Grund hat Moses das Rote Meer geteilt. Deshalb kam Lazarus hervor, als Jesus sagte: ›Lazarus, komm hervor‹.
    Es sind lediglich Taschenspielertricks. Ihr könnt den Gesamtzusammenhang nicht verstehen, keiner von eurer Art ist dazu in der Lage. Gott schenkte euch das Paradies, Er schenkte euch Perfektion und Glückseligkeit, und ihr habt Ihm den Rücken zugekehrt. Ihr habt Fick dich! zum Allmächtigen gesagt. Ihr habt euch wissentlich für Fehler und Sünde entschieden, statt für Sein perfektes Geschenk. ›Ihr habt mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, also werde ich sämtliche Türen vor eurer Nase zuschlagen – alle bis auf eine. Ich liebe euch immer noch, ihr verdammten Idioten, also werde ich euch die Option der Erlösung überlassen. Ich werde euch sogar verraten, wie ihr davon Gebrauch machen könnt. Aber das ist alles. Von hier an seid ihr auf euch allein gestellt.‹
    Ihr Menschen seid an der falschen Abfahrt rausgefahren. Aber jetzt müsst ihr eure Reise fortsetzen, bis der Tank leer ist, und euch mit den ganzen Problemen auseinandersetzen, vor denen Gott euch immer bewahren und beschützen wollte: Krieg, Hass, Krankheit, Armut, Versagen und diese ganze Scheiße. Das ist kein Kinderspiel. Satan besitzt die Eigentumsurkunde der Welt, seit Eva in den Apfel gebissen und Adam sich das Feigenblatt vor den Latz geschoben hat, weil er sich dafür schämte.«
    Westmore lachte.
    »Komm schon, Mann. Du willst mir doch nicht ernsthaft auftischen, dass dieser Quatsch aus der Bibel tatsächlich passiert ist? Ich dachte immer, das wären Allegorien, eine Art Legende.«
    »Glaube ist ein mächtiges Instrument. Er prägt die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft. Wenn etwas erst einmal geschehen ist und Tausende von Jahren ins Land gezogen sind, wer kann dann schon noch so genau sagen, auf welche Weise es sich tatsächlich zugetragen hat? Geschichte ist das, was man glauben will, so wie Gott und der Himmel Konzepte sind, an die du glaubst –