Der Teratologe (German Edition)
jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Gott besitzt ein eindeutiges Wesen. Es ist lediglich sein Erscheinungsbild, das sich verändert. Euer Glaube formt es. Deshalb gibt es auch verschiedene Vorstellungen von Himmel und Hölle. Das Gleiche gilt für Engel. Wärst du ein Buddhist, würde ich dir als Lotosblüte erscheinen.«
»Warum nicht als Buddha selbst?«
»Das liegt zwar in meiner Macht, aber dazu bin ich nicht befugt. Genauso gut könnte ich dir als Jesus Christus begegnen. Für eine solche Anmaßung würde ich selbst in der Hölle landen.«
»Es gibt also auch unterschiedliche Götter?«
»Nein, nur einen, aber er kann viele verschiedene Formen annehmen. Es ist allein eine Frage des Glaubens.«
»Ich kapier’s nicht.«
»Glücklicherweise ist es nicht wirklich notwendig, dass du es tust. Du bist nicht fähig, es geistig zu erfassen.«
Westmores Gedanken tropften wie Blut. Er fühlte sich von ewiger Dunkelheit umgeben.
Dann sagte der Engel unvermittelt: »In diesem Haus geht ganz schön kranker Mist ab. Deshalb bin ich gekommen.«
»Kranker Mist? Was meinst du damit?«
»Ein selbstverherrlichender Affront. Das systematisierte Böse. Es ist das Nebenprodukt deiner entarteten Gesellschaft. Die einzig wahre Gesellschaft ist die Gesellschaft Gottes.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, krächzte Westmore.
»Natürlich weißt du das nicht, weil du zu blöd bist. Wir arbeiten im Geheimen. Irgendjemand muss das notwendige Wissen besitzen. Genau deshalb bin ich hier. Farrington ist ein Anhänger und lebendiges Sinnbild für die Zersetzung der Menschheit. Er möchte mit Gott streiten. Er denkt, wenn er den Schöpfer auf die Palme bringt, tritt er selbst auf den Plan.« Ein Kichern wie knirschende Felsen. »Ich will dir eins sagen, Westmore: Gott ist bereits über alle Maßen verärgert. Er hat sich jahrtausendelang mit den Menschen herumgeschlagen, und Er ist bis in die tiefsten Abgründe seiner Seele angepisst. Er wird sich nicht selbst zeigen – ihr seid Seine Zeit nicht wert. Gott hat sich von euch abgewendet und ist anderweitig beschäftigt. Er hat euch eine Chance gegeben. Also nutzt sie, verdammt!«
Farrington, dachte der Fotograf. Wie hatte er ihn genannt? Das systematisierte Böse? Blieb der Engel absichtlich so vage?
»Eine Sache wirst du bald selbst herausfinden«, unterbrach der Engel seine Überlegungen.
»Was ist mit Farrington?«, flehte Westmore beinahe. »Du verwirrst mich. Ich weiß wirklich nicht, was du mir sagen willst.«
War die Kontur des Schattens tatsächlich noch unschärfer geworden?
»Finde es selbst heraus.«
»Warum vertraust du mir dieses Wissen an?«, fragte Westmore als Nächstes.
Ein zerfließendes Lachen. »Ich bin lediglich der Bote. Der Überbringer der Nachricht. Es steht mir nicht zu, nach den Gründen zu fragen. Gott möchte, dass ich zu dir komme, also komme ich zu dir. Ja, Gottes Wege sind verschlungen – Herr im Himmel, das sind sie. Aber nur so existiert die verschwindend geringe Chance für dich, das große Ganze zu durchschauen.«
Westmores Augen fühlten sich an, als würden sie von Haken zwanghaft offen gehalten.
Der Engel begann, sich in Luft aufzulösen. »Ich muss jetzt gehen, aber vorher möchte ich dir noch etwas mit auf den Weg geben. Möchtest du es hören?«
Westmore schluckte und nickte.
»Es ist ein Geheimnis.«
»Erzähl es mir.«
Der Engel zerfiel in der Dunkelheit. »Beschäftige dich mit dem menschlichen Drang, Gutes zu tun, aber auch mit dem gegensätzlichen Verlangen, sich auf die Seite des Bösen zu schlagen – wenn du beides zusammennimmst und ganz genau hinsiehst … dann wirst du es erkennen.«
» Was erkennen?«, flüsterte Westmore.
»Dass sie in Wahrheit dasselbe sind.«
Der Engel verschwand.
(VI)
Zwei Männer in einem Raum. Nacht. Absolute Stille.
»Der Wasserkopf ist gestorben«, verkündete Michaels. »Und der Priester hatte einen Herzinfarkt.«
»Kümmern Sie sich darum.«
»Das habe ich bereits.«
Farrington trug eine Robe aus scharlachrotem Satin und nippte abwesend an einem Glas 1918er Montrachet. Ein ganz vorzügliches Tröpfchen. Sein Blick wanderte hin und her zwischen dem Computermonitor und dem großen Erkerfenster, das die Dunkelheit vom Mondlicht erhellt einrahmte. Er schien sich in einer grüblerischen Stimmung zu befinden. Michaels wusste, dass das die Art seines Meisters war, mit Verzweiflung umzugehen.
»Weitere Investitionen sollten kein Problem darstellen.«
»Nein, auf gar keinen Fall.
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