Der Teufel in Frankreich
der meisten von uns nach Marseille. Dort war der größte Teil der Bevölkerung uns wohlgesinnt, dort gab es opferwillige Freunde. Mit ihrer Hilfe mußte man verschwinden können, untertauchen in der großen, verwinkelten Stadt. Und dann war dort das Meer, der Hafen, der einzige Weg, ins Ausland zu kommen oder zumindest in eine der Kolonien.
Und wenn die meisten Entflohenen wieder eingefangen und ins Lager zurückgebracht wurden, einige schafften es, einige entkamen über See. Da war die Geschichte eines gewissen W., der in Marseille einen jungen Araber getroffen hatte, den er von früher her kannte. Der Araber, der auf einem algerischen Schiff diente, hatte ihn und noch einen auf dieses Schiff geschmuggelt, und nun waren sie in Casablanca oder wahrscheinlich schon weiter. Berichtet wurde die Ge schichte von einem, dem W. und der Araber angeboten hatten, ihn mitzunehmen. Er aber hatte es nicht gewagt. Jetzt erzählte er vom Glück seiner mutigeren Freunde, er erzählte voll von Reue und Neid, und voll von Neid und Sehnsucht hörten wir ihm zu.
Disziplin gab es nicht mehr im Lager. Ohne Scheu zeigten sich jetzt die Frauen in der unmittelbaren Umgebung, und die Männer gesellten sich zu ihnen. Offiziere und Wachpatrouillen wiesen die Frauen fort. »Sie dürfen hier nicht bleiben«, sagten sie, und: »Das möchten wir alle«, meinten sie derb und gutmütig, »mit unsern Frauen schlafen«, und halblaut fügten sie hinzu: »Gehen Sie doch etwas weiter weg oder tiefer in den Wald, daß ich Sie nicht sehen muß.« Unser Kamerad Weinberg, der sich schon nach Les Milles seinen Hund hatte kommen lassen, hatte jetzt auch fast immer den Besuch seiner Frau, einer Französin. Einträchtig gingen die drei spazieren, er wieder in Zipfelhaube und schmutzigem Pyjama, sie hübsch und adrett angezogen, und kläffend und vergnügt der Hund.
Auf der Wiese, am Waldrand, wo sich Männer und Frauen zu treffen pflegten, sah ich auch die hilfreiche Madame L. wieder. Sie war in Gesellschaft jener französischen Dame, mit der ich damals in der Stadt Nîmes zu Mittag gegessen hatte, der Freundin des Berliner Anwalts. Die Damen saßen zusammen mit den zugehörigen Männern und picknickten, behindert durch die Fliegen und Moskitos. Madame L. war in der Zwischenzeit in ihren Bemühungen für mich nicht säumig gewesen. Sie hatte überall hingeschrieben, um auszufinden, wo meine Frau steckte. Sie hatte ermittelt, daß Frau Feuchtwanger in Gurs gewesen, von dort entlassen, dort wieder eingeliefert worden war. Jetzt, so schien es, war sie ein zweites Mal entlassen worden und auf dem Weg nach Sanary. Zu reisen war eine umständliche Angelegenheit im Frankreich jener Tage, und es war wohl möglich, daß meine Frau Wochen brauchen werde, ehe sie unsre Gegend oder unser Sanary erreichte.
Ich muß hier ein paar Sätze einschalten zum Lob unsrer Frauen. Sie bewährten sich großartig in dieser ganzen bösen Zeit. Wohl schimpften und klagten sie zuweilen, doch Weinkrämpfe, Zusammenbrüche, Hysterie gab es nicht. Die Frauen hielten tapfer zu ihren Männern, die deutschen sowohl wie die französischen, und taten besonnen, was sie konnten. Sie hatten mehr Bewegungsfreiheit als wir Männer, man faßte sie weniger scharf an, der Franzose war selbst in dieser verzweifelten Situation galant. Mit List, ein wenig gutem Aussehen und etwas Koketterie konnten sie mancherlei für uns erreichen. Die weitaus meisten scheuten nicht die Strapazen und Gefahren der Reise nach Nîmes. Aus allen Teilen Frankreichs kamen sie, uns zu sehen, ganz ohne Papiere oder mit erlisteten Papieren, sie schlugen sich durch bis in unsere Zeltstadt.
Das Erotische spielte eine überraschend geringe Rolle im Lager. Natürlich wurden immerzu die ungeheuerlichsten Zoten erzählt, und man sah die Wände beschmiert mit primitiven obszönen Zeichnungen; aber es war nicht so, daß die Gefangenen, wie ich es erwartete, unter erotischen Entbehrungen besonders schwer zu leiden gehabt hätten.
Auf der andern Seite zeigte es sich, wie fest in fast allen Fällen die familiäre Bindung hielt, die Bindung zwischen Mann und Frau. Es kam öfters vor, daß sich der Mann oder die Frau allein hätte retten können, ohne den Ehepartner. Nur ganz wenige taten es.
Dabei mehrten sich in unserm Lager die Kranken, und der Gesundheitszustand aller wurde immer schlechter. Die Ärzte erklärten, die Hospitäler der Umgebung seien überfüllt und Opium und was man sonst an medizinischen Mitteln brauche, sei nicht
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