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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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sagte er schließlich. „Schwester!“, brüllte er.
    Die Schwester riss die Tür auf. „Ja, Doktor?“
    „Wir werden den Patienten über Nacht hier behalten. Informieren Sie mich unverzüglich, wenn sein Zustand sich verschlechtert. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“
    „Ja, Doktor.“
    „Kommen Sie, Herr Strauss“, sagte Gutenberg. „Lassen wir Herrn Wrede schlafen.“
     
    Erik blickte überrascht auf. „Sie haben ihn erkannt?“
    „Natürlich.“ Gutenberg rückte seine Brille mit dem Zeigefinger zurecht. „Ich habe einmal versucht, seiner kleinen Tochter Julia zu helfen. Leider vergebens. Niemand könnte ihr jemals helfen. Haben Sie das Mädchen gesehen?“
    Das Bild von Wredes Tochter tauchte vor Eriks innerem Auge auf. „Ja“, sagte er leise. „Einmal. Was stimmt nicht mit ihr?“
    „Sie bewegt sich, sie atmet, ihr Herz schlägt. Sie isst, sie trinkt, sie verdaut. Sie weist alle Eigenschaften auf, die man gemeinhin als die Merkmale des Lebens bezeichnet.“ Gutenberg zog die Augenbrauen zusammen. „Aber etwas fehlt. Nennen Sie es Geist, Bewusstsein, Seele meinetwegen. Ihr Körper ist eine lebendige, atmende, leere Hülle. Und dann diese Augen, mein Gott! Wenn das Mädchen mich ansah, wollte ich schreiend davonlaufen.“ Er lachte trocken. „Sie wissen, dass Wredes Tochter nicht die Einzige ist, habe ich Recht?“
    Erik sah ihn fragend an. „Was meinen Sie?“
    Der Arzt seufzte. „Stellen Sie sich nicht dumm, Herr Strauss. Ich meine die Symptome, die ich Ihnen soeben geschildert habe. Und ich meine mindestens zwei Dutzend dieser Gestalten, die durch Thannsüß wanken, als wäre es selbstverständlich, ein Klumpen Fleisch ohne Bewusstsein zu sein. Nicht einmal hundert Jahre Inzest bringen so etwas zustande.“ Er schob seine Brille mit dem Zeigefinger hoch. „Wissen Sie, wovon ich spreche?“
    Erik fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. „Ich bin mir nicht sicher. Ich habe dort oben Menschen getroffen, auf die Ihre Beschreibung zutrifft. Aber ich habe nur drei oder vier von ihnen gesehen, und mir wurde immer eine plausible Erklärung für ihren Zustand genannt.“
    „Drei oder vier, aha.“ Er stieß ein Schnauben aus. „Sie verstecken sie in ihren Häusern, wie etwas, für das man sich schämen muss. Nun ja.“
    „Gibt es eine medizinische Erklärung dafür?“
    Gutenberg schüttelte den Kopf. „Keine, die mir bekannt wäre. Müsste ich den Zustand benennen, so würde ich vermutlich von einer umgekehrten Katatonie sprechen. Sagt Ihnen der Begriff Katatonie etwas?“
    „Eine Art Erstarrung, oder?“
    „Richtig. Eine furchtbare Krankheit, der meist psychische Ursachen zugrunde liegen. Der Körper erstarrt in einer unnatürlichen, verkrampften Haltung. Ein gesunder Geist wird dadurch in einem nutzlosen Körper eingesperrt. Aber bei den Fällen in Thannsüß ist es genau umgekehrt: Ein gesunder Körper, kein Geist. Deshalb würde ich das Krankheitsbild, wenn man diesen Zustand denn überhaupt als Krankheitsbild bezeichnen möchte, umgekehrte Katatonie nennen. Tja.“ Er warf einen letzten, prüfenden Blick auf Xaver Wrede. Dann kehrte das spöttische Lächeln auf sein Gesicht zurück. Er öffnete die Tür zum Sprechzimmer und bedeutete Erik mit einer Handbewegung, einzutreten. „Sie sehen gar nicht gut aus, Herr Strauss. Machen Sie sich bitte frei.“
    Erik legte seine Jacke ab und zog sein Hemd und die Hose aus. Dann setzte er sich auf die Pritsche.
    „Wie sehen Sie denn aus?“, fragte Gutenberg und musterte ihn über den Rand seiner Brille hinweg. „Haben Sie sich mit einer Frau angelegt?“
    Erik lächelte gequält. Sein ganzer Körper fühlte sich wund an. „Erst mit einer Gletscherspalte. Dann mit einer Frau.“
    „Aha.“ Der Arzt hörte Eriks Brust mit dem Stethoskop ab. „Sie waren auf dem Gletscher? Warum?“
    „Ich weiß es nicht genau.“ Erik sah zu Boden. „Der Gletscher übt eine seltsame Faszination auf mich aus.“
    „Eine Faszination, so. Können Sie das spezifizieren?“
    „Nein“, sagte Erik. Er war noch nicht bereit, dem Arzt von den klagenden Lauten, den flüsternden Stimmen zu erzählen. Gutenberg musterte ihn skeptisch. „Was ist passiert?“
    „Ich bin in eine Spalte gestürzt. Vielleicht haben Sie davon gehört. Xaver Wrede nannte sie den großen Graben.“
    „Wie hoch dramatisch!“, rief Gutenberg. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, nie davon gehört.“
    Erik grinste. Stechender Schmerz durchzuckte sein verletztes Ohr. „Eine

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