Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
löschen es aus, radieren seine Häuser vom Antlitz der Welt, treiben seine Überreste tief in die weiche Erde. Die Luft ist erfüllt vom Bersten und Krachen und Brausen der herabstürzenden Trümmer, von den dumpfen Einschlägen der Eisbrocken, vom Schreien der Menschen. Die Erde bebt, als wollte sie Thannsüß von ihren Schultern schütteln.
Dies ist der letzt e Tag. Dies ist die Apokalypse.
Erik schließt die Augen und presst sich die Hände auf die Ohren. Er hört seine eigenen Schreie nicht mehr.
Später steht er auf und blickt um sich. Der Baum mit den weißen Blüten, an dessen Stamm er sich gelehnt hatte, steht unversehrt. Das Dorf ist verschwunden. Hier und da schlagen Flammen aus den Trümmern und dem Eis. Rauchschwaden ziehen durch die Luft. Er sieht auf zum Großen Kirchner, und sein Gipfel wirkt kleiner als zuvor. Der Gletscherüberhang ist fort. Das Dorf ist jetzt der Gletscher.
Überall ist Eis.
Überall hört er das Brüllen der Überlebenden, das Röcheln der Sterbenden. Er sieht die zerschmetterten Glieder der Toten. Die Toten sind still. Er läuft zu der Stelle, an der einmal die Kirche von Thannsüß stand, doch da ist nichts mehr. Nichts.
Nach und nach kriechen die Überlebenden aus den Trümmern. Wer noch gehen kann, geht. Sie sammeln sich auf dem Kirchplatz. Er hört ihr Weinen und ihr Schreien, hört ihre Klage und ihre Wut. Er sieht sie auf die Knie fallen, die Hände zum Himmel recken und ihren Gott verfluchen.
Und aus dem Rauch und dem Chaos erhebt sich die Gestalt eines Mannes. Er ist groß, größer als alle anderen. Er überragt sie um mindestens eine Elle. Sein Gesicht ist weich und vollkommen glatt. Da sind keine Haare, kein Bart, keine Augenbrauen. Sein kahler Schädel reflektiert den flackernden Schein des Feuers. Erik weiß, dass er den Mann kennt. Er ist ihm bereits begegnet.
Der Mann ist vollkommen ruhig. Er nimmt die Situation in sich auf, atmet den Rauch tief ein, scheint den Schmerz zu inhalieren. Er überquert langsam den Pfarrhof. Kurz bevor er Eriks Baum erreicht, von dem noch immer weiße Blüten regnen, bleibt er stehen. Er betrachtet lächelnd den Baum, dann dreht er sich um und lässt seinen Blick über das Chaos schweifen. Die Überlebenden scharen sich um ihn, kriechen zu seinen Füßen, so als glaubten sie, er könne sie auf wundersame Weise von ihren Qualen erlösen. Der Fremde hebt die Arme, und ihr Stammeln und Wehklagen, ihr Zorn und ihr Fluchen verstummen. Unter den Überlebenden, die sich um den Mann versammelt haben, erkennt Erik den Pfarrer, Benedikt Angerer und Lothar Brant.
„Ihr guten Leute von Thannsüß“, ruft der Fremde mit lauter Stimme. „Hört mich an!“ Dann blickt er Erik direkt in die Augen. Er lächelt sanft.
Der Lehrer tauchte auf, und es fühlte sich an, als würde er mit verzweifelten Schwimmzügen und verbrauchter Luft in seinen Lungen aus der Tiefe eines dunklen Sees emporsteigen, dem Licht entgegen. Er durchbrach die Oberfläche, sog zitternd Luft ein und blickte sich benommen um. Der Pfarrer stand über ihm, das Gesicht grimmig verzerrt. Der Wind riss an seinem langen grauen Haar. „Ja, so war es in jener Nacht, Lehrer!“, schrie er. Schneeflocken fielen vom Himmel wie weiße Blüten. Der Sturm packte sie und schleuderte sie in die Dunkelheit. „Wir haben einen Pakt geschlossen in jener Nacht! Wir alle!“ Sein Arm beschrieb einen Kreis in der Luft, als wollte er das ganze Dorf damit erfassen. Blitze schlugen Kerben in den dunklen Himmel und brannten die Gesichter der versammelten Menschenmenge in die Finsternis wie ausglühende Kohlestücke.
„Jeder Einzelne hier, jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, hat den Vertrag unterzeichnet!“, schrie Thomas Hellermann. „Die Nacht, in der der Pilot seine Bomben über dem Gletscher abwarf, wurde ungeschehen gemacht. Thannsüß erhob sich aus den Trümmern wie Phönix aus der Asche! Unseren Toten wurde neues Leben geschenkt. Wir erhielten in jener Nacht eine zweite Chance!“
„Welcher Vertrag?“, murmelte Erik, und sein Mund schmeckte nach Fäulnis und Tod. „Welcher Pakt?“ Er wälzte seinen Kopf auf der feuchten Erde hin und her.
„Begreifen Sie denn noch immer nicht?“ Die Augen des Pfarrers funkelten im Licht der Petroleumlampe. „Wir haben einen Pakt geschlossen. Einen Pakt mit dem Teufel!“
Der Stock des Pfarrers sauste durch die Luft und traf Eriks Schläfe. Die Wucht des Schlages schleuderte Eriks Gesicht zurück in den Dreck. Und noch einmal
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