Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Sein Zorn verzerrte es zu einer hässlichen Fratze. „Sie wollen die Wahrheit, Lehrer?“, schrie er. „Ich habe Ihnen gesagt, dass Unwissenheit ein Segen sein kann! Ich habe Ihnen gesagt, dass manche Dinge besser im Dunkeln bleiben sollten! Aber Sie mussten sie unbedingt ans Licht zerren.“ Er stieß seinen Stock gegen Eriks Brust und drückte ihn zu Boden. Blitze rissen die Dunkelheit in Fetzen. Das Tosen des Donners brachte die Erde zum Zittern. Der Pfarrer sog die stinkende Luft tief in seine Lungen. „Wissen Sie, wo wir sind?“
„Auf dem Fleck“, keuchte Erik. „Auf dem schwarzen Fleck vor der Kirche.“
„Ja, wir sind auf dem Fleck! Auf dem Mal.“ Der Pfarrer senkte die Stimme. „Unserem Schandmal.“
„Hier wurde die Bombe abgeworfen“, flüsterte Erik. „In der Nacht, als das Flugzeug über dem Gletscher abstürzte.“
Die Augen des Pfarrers waren voller Verachtung. Seine Lippen zitterten. „Nein, Lehrer. Und wieder irren Sie sich! Die Bombe wurde nicht hier abgeworfen. Das erzählen wir Fremden wie Ihnen, Außenseitern, um ihre Neugier zu befriedigen!“ Er hustete, und rote Tröpfchen wurden vom Wind in die Dunkelheit gerissen. „Die Bombe wurde einen Kilometer südlich von hier abgeworfen.“ Der Pfarrer hob den Kopf. Sein Blick wanderte die Flanke des Großen Kirchners empor. „Dort oben. Der Pilot wartete bis zum letzten Moment. Vermutlich wollte er Thannsüß retten. Der gute Mann!“ Der Pfarrer spuckte aus. „Er warf die Bombe erst ab, als er über dem Grimbold war.“
Der Wind brauste vom Gletscher herunter und über den Pfarrhof, als wollte er die Kirche, das Pfarrhaus und alle Menschen, die davor versammelt waren, mit sich in die Nacht reißen. „Wissen Sie, was das bedeutet, Lehrer?“, schrie der Pfarrer über das Brüllen des Sturms hinweg. „Wissen Sie, was dann geschah? Welch furchtbare Konsequenzen diese Entscheidung nach sich zog? Diese eine, fatale Entscheidung?“
Ein Blitz schlug mit einem lauten Knall in die Hochebene ein. Erik zuckte zusammen. Er versuchte sich aufzurichten, doch der Pfarrer drückte ihm die Spitze seines Stocks fester gegen die Brust. Erik sank zurück auf den Boden. Benommen blickte er zu Thomas Hellermann auf.
„ Die Wahrheit, Lehrer. Sie wird Ihnen nicht schmecken.“ Der Pfarrer kniete sich neben ihn. Eine Hand packte ihn an den Haaren.
„Hier ist Ihre Wahrheit!“ Der Pfarrer riss Eriks Kopf in die Höhe. Thomas Hellermann grub seine Finger in den stinkenden Boden und hob eine Hand voll Erde heraus. Er presste die Hand auf Eriks Mund. Erik schleuderte seinen Kopf hin und her, aber die Hand auf seinem Mund bewegte sich keinen Millimeter. Erik spürte die warme Erde auf seinem Gesicht, auf seinen Lippen, schmeckte sie sauer und faulig auf seiner Zunge. Er rang nach Luft, doch der Pfarrer hielt seinen Mund und seine Nase fest verschlossen. Schwarze Flecken tanzten vor Eriks Augen. Er spürte die Kraft aus seinem Körper fließen wie Wasser aus einem leckgeschlagenen Kanister. Dunkelheit brauste heran wie eine Sturmböe, doch er wehrte sich dagegen, kämpfte, schlug um sich. Er riss den Mund auf und schnappte gierig nach Luft, doch da war keine Luft. Da war nur Erde. Sie floss in seinen Hals wie warmes Brackwasser, rieselte mit jedem erstickten Atemzug in seine Lungen, füllte seinen Mund, seinen Rachen, seine Luftröhre. Die Erde schmeckte nach Schwefel, nach Angst und Schmerz und einem alten Feuer, das alles Leben aus ihr herausgebrannt hatte.
Und plötzlich explodierte ein Bild vor Eriks innerem Auge. Es leuchtete hell und gleißend auf wie eine sterbende Sonne. Es löschte alles andere aus. Der Pfarrhof, Thomas Hellermann, die Menschen von Thannsüß waren mit einem Mal verschwunden.
Als Erik den Kopf in den Himmel hebt, spürt er schwere Regentropfen auf seinem Gesicht. Hoch über ihm zieht unter der schwarzen Wolkendecke ein Flugzeug vorüber. Erik kennt den Flugzeugtyp. Sein Vater fliegt eine Ju 88, eine Maschine wie diese. Weitere Flugzeuge folgen ihr. Der Lärm ihrer Motoren legt sich über das Grollen des Donners. Sie ziehen in V-Formation vorüber. Die Blitze lassen ihre Stahlkörper in der Dunkelheit aufleuchten wie flackernde Glühbirnen. Der Motorenlärm wird lauter, obwohl sie so hoch fliegen, dass sie manchmal für kurze Zeit in die Wolken eintauchen.
Plötzlich schlägt ein Blitz in das erste Flugzeug ein. Für einen Augenblick hüllt er den Jagdbomber in ein Gewand aus blauem Feuer. Wenige Sekunden später trägt
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