Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
werden sie schon bald wiedersehen.“ Ein Lächeln erschien auf Thomas Hellermanns Gesicht. „Aber zuerst geben Sie mir das Kind.“
„Wo ist Marie?“, flüsterte Erik.
„Geben Sie mir das Kind, und ich verspreche Ihnen, Sie werden bald bei ihr sein.“
„Was haben Sie mit ihm vor?“ Erik wich einen weiteren Schritt zurück.
„Es wird seiner Bestimmung folgen. So wie wir alle.“
Plötzlich spürte Erik einen harten, kalten Druck an seinem Hinterkopf. Er drehte sich langsam um. Hinter ihm stand Benedikt Angerer und presste ihm den Lauf eines Gewehrs an den Schädel. Benedikts Augen glänzten kalt.
Der Pfarrhof füllte sich mit Menschen. Sie schienen aus allen Richtungen zu kommen. Als würden sie einem lautlosen Signal folgen, versammelten sich die Einwohner von Thannsüß auf dem Platz vor der Kirche. Sie verharrten außerhalb des Lichtkegels der Lampe und schienen auf etwas zu warten, reglose und finstere Gestalten. Sie standen schwankend im Wind. Erik spürte ihre leeren Blicke auf sich.
„Zum letzten Mal, Erik. Geben Sie mir das Kind!“
Erik sah hinunter auf das kleine, warme Knäuel in seinen Armen. Unter den Decken spürte er sanfte Bewegungen. Er sog den Geruch des Kindes in sich ein. Es roch nach Leben. Erik spürte einen Stich in seinem Herzen. Seine Arme zitterten, als weigerten sie sich, zu tun, was er von ihnen verlangte. Aber schließlich streckte er das Kind von sich. Der Pfarrer nahm es behutsam aus seinen Händen. Er betrachtete es für eine Weile, und ein sanftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Dann reichte er das Kind an Anna weiter. „Es ist am Leben!“, sagte er tonlos. Das Lächeln war erloschen. „Sie wissen, was zu tun ist.“
Die Wirtschafterin nickte und barg das Kind an ihrer Brust. Sie warf Erik einen letzten , vorwurfsvollen Blick zu. Dann ging sie langsam auf den Eingang des Pfarrhauses zu, und Kathi Brechenmacher folgte ihr.
Das Gewitter hatte das Dorf fast erreicht. Blitze gingen im Sekundentakt auf die Hochebene nieder.
„Was haben Sie mit dem Kind vor?“, schrie Erik. Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen.
„Es wird seinem Schicksal folgen“, rief der Pfarrer. „So wie Sie dem Ihren folgen werden.“
„Was soll das Gefasel?“ Erik spuckte blutigen Schleim in den Schnee. „Können Sie mir nicht einmal die Wahrheit sagen?“, schrie er, und seine Stimme überschlug sich. „Nur ein einziges Mal, Sie verlogener alter Scheißkerl!“
„Sie wollen die Wahrheit?“ In den Augen des Pfarrers tanzte ein Feuer, das Erik noch nie darin gesehen hatte. „Sie wollen die Wahrheit?“, brüllte er, und die Gewalt seiner Stimme ließ das Toben des Sturms mit einem Mal wie ein Flüstern erscheinen. „Ich zeige Ihnen die Wahrheit, Lehrer!“
Ein heftiger Windstoß fuhr unter das Dach des Gästehauses. Die Ziegel schlugen klappernd aneinander. Im nächsten Moment riss der Sturm das Dach von den Wänden, als wäre es aus Papier. Das Dach rauschte heulend über ihre Köpfe hinweg, schlug krachend auf dem Pfarrhof auf, zerbarst in seine Einzelteile und verschwand in der Dunkelheit.
Erik spürte eine Bewegung hinter sich. Dann traf ihn ein heftiger Schlag am Hinterkopf und schleuderte ihn zu Boden. Schnee drang in seine gebrochene Nase, in seinen Mund, seine Augen und Ohren. Die Lampe wurde ihm aus der Hand gerissen. Jemand packte ihn mit ungeheurer Kraft unter den Achseln und schleifte ihn über den Pfarrhof. Erik strampelte mit den Beinen, aber es gelang ihm nicht sich aufzurichten. Dicht vor seinem Gesicht stampften riesige Füße durch den Tiefschnee. Er drehte den Kopf und erhaschte einen Blick auf Kanters hünenhafte Gestalt, die ihn mit roher Gewalt durch den Schnee zerrte. Als Erik aufsah, trafen sich ihre Augen. Die Leere in Kanters Blick jagte lähmendes Entsetzen durch seinen Brustkorb. „Lass mich los!“, schrie er.
Kanter schleifte ihn durch den Schnee auf dem Pfarrhof wie einen lehmgefüllten Sack. Dann war der Schnee plötzlich verschwunden. Kanter zerrte Erik über weiche, feuchte Erde. Dampfschwaden stiegen daraus empor. Ein widerlicher Geruch nach Schwefel und Fäulnis kroch in Eriks Nase und fraß sich in sein Gehirn wie Säure. Er würgte. Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel auf die stinkende, tote Erde.
Kanter blieb abrupt stehen. Seine Hand, die wie ein Schraubstock um Eriks Oberarm gelegen hatte, löste sich. Erik stürzte zu Boden. Er kroch von Kanter weg und rang hustend nach Luft.
Über ihm erschien das Gesicht des Pfarrers.
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