Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
blieb für immer unter dem Eis und den Trümmern.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Aber noch schlimmer war es in dem Jahr, in dem das erste Kind geboren wurde.“ Er betrachtete das Bündel in seinen Armen. Zwei kleine Hände ragten aus den Decken und öffneten und schlossen sich, als suchten sie nach Halt. Tränen liefen über Xaver Wredes Wangen. „Glauben Sie mir, es war nicht leicht“, flüsterte Wrede. „Niemand wollte tun, was wir tun mussten. Aber schließlich taten wir es.“
Erik streckte die Arme aus. „Geben Sie mir das Kind.“
Wrede schüttelte den Kopf. Er sah Erik lange an. „Das Kind und ich, wir haben noch einen weiten Weg vor uns“, sagte er schließlich. „Wir haben einen Pakt zu erfüllen.“
„Das ist Wahnsinn!“, schrie Erik.
„Ein Mensch stirbt. Zweihundert andere dürfen leben.“ Wrede trat einen Schritt zurück, bis seine Fersen über den Abgrund hinausragten. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen wie trockenes Laub. „Leben Sie wohl, Lehrer.“
Xaver Wrede drückte das Kind an seine Brust und ließ sich rückwärts in die Dunkelheit fallen. Er lächelte.
„Xaver! Nein!“ Erik sprang nach vorn. Er landete bäuchlings auf der Kante des Grabens, und der Aufprall trieb ein Stöhnen aus seinem Hals. Er streckte die rechte Hand über den Rand des Grabens und bekam einen Zipfel des Deckenbündels zu fassen. Er riss das Kind aus Wredes Armen. Das Lächeln auf Xaver Wredes Gesicht erlosch. Einen Augenblick später hatte die Finsternis im Schlund des großen Grabens ihn verschluckt.
Erik hob das Deckenbündel mit zitternden Händen über den Rand des Abgrunds und presste es an sich. Wie durch ein Wunder hatten die Decken sich nicht gelöst. Während er vom Graben weg kroch, drang das leise Weinen des Kindes zu ihm. Erik drehte sich auf den Rücken, legte das Kind auf seine Brust und rang nach Atem.
Dann hörte er hinter sich ein Hecheln. Lucy kämpfte sich durch den Tiefschnee auf den großen Graben zu. Sie begrüßte Erik schwanzwedelnd. Dann beschnüffelte sie die Stelle, an der Xaver Wrede bis vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte. Sie begann zu winseln und lief aufgeregt am Rand der Spalte auf und ab. Sie bellte in den Abgrund, vielleicht klagend, vorwurfsvoll oder fragend, und der Abgrund schickte ihre Stimme verzerrt und hohl zurück. Dann gab die Schneewechte, auf der sie stand, unter ihr nach, und mit einem klagenden Heulen folgte sie ihrem Herrn in die Tiefe.
Erik saß auf dem Gletscher und drückte das Kind an sich. Er blickte hinunter auf Gutenbergs verkrümmten Körper. Er sah zur Seite, und dort saß Anna, steif gefroren unter einer dicken Schneedecke, nicht mehr als ein weiterer Buckel auf der unendlichen Eisfläche des Gletschers. Der Sturm zerrte an ihm. Eiskristalle rissen sein Gesicht auf, scheuerten seine Wangen blutig, doch er spürte es nicht. Er starrte in den Abgrund, und der Abgrund starrte in ihn. Er zitterte so heftig, dass seine Zähne aufeinander schlugen. Er schleuderte seinen Kopf hin und her, als wollte er ihn von seinem Hals reißen, als wollte er alles herausschütteln, was darin rot und furchtbar gärte und schrie. Er war dabei, den Verstand zu verlieren. Und er wusste nicht, ob er jemals wieder die Kraft finden würde, aufzustehen.
Kapitel 5 2
Irgendwann drang das Weinen des Kindes zu ihm durch, und es war wie ein Funksignal aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben. Er erwachte aus seiner Starre. Da war noch immer ein Teil von ihm, ein letzter, kümmerlicher Rest, der leben wollte.
Er wickelte die Decken fester um das Kind, damit es nicht auskühlte, und kämpfte sich durch den Sturm zurück zu der Stelle, an der Benedikts Petroleumlampe lag. Die Lampe brannte noch immer, aber Benedikt war fort. Wo er gelegen hatte, war der Schnee rot von seinem Blut. Erik drehte sich langsam um die eigene Achse. Er fühlte sich, als wäre er in einem Traum gefangen , aus dem es kein Erwachen gab.
Schließlich entdeckte er eine dünne rote Spur im Schne e. Sie führte hinunter ins Tal.
Erik hob die Lampe auf. Dann folgte er der Blutspur. Benedikt war über die linke Gletscherzunge abgestiegen. Dunkle Tropfen wiesen Erik den Weg. Er fragte sich nicht, wie Benedikt in der Dunkelheit den Abstieg geschafft hatte. Es spielte keine Rolle. Er folgte der Spur durch den Eiskanal, wo der Sturm so laut war, dass er selbst das Schlagen seines Herzens übertönte, er folgte ihr durch die aufgetürmten Eisblöcke und über die vom Neuschnee
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