Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
„Es war die einzige Möglichkeit, Sie hier rauszuholen.“
„Blödsinn!“ Erik spürte erneut heiße Tränen auf seinen Wangen.
Gutenbergs Brustkorb hob und senkte sich wie ein alter Blasebalg. „Sie hätten niemals versucht zu fliehen, wenn Sie gewusst hätten, dass Ihr Vater … hier oben im Eis liegt. Ich wollte Sie retten.“ Die Worte gingen im Gurgeln seines Blutes unter. Das Kind in Eriks Armen hatte leise zu weinen begonnen. „Ihr Vater ist Vergangenheit, Strauss“, flüsterte Gutenberg. „Dabei ist die Gegenwart doch viel wichtiger. Gehen Sie zu Ihrer Frau.“ Zischend entwich der letzte Atemzug aus seinen Lungen.
„Gutenberg“, flüsterte Erik. „Gutenberg!“
Doktor Friedrich Gutenberg war tot.
Erik heulte auf und brüllte seinen Schmerz und seinen Zorn in den Himmel über dem Gletscher.
Eine Gestalt trat aus der Dunkelheit in den Lichtkegel der Lampe. „Rühren Sie sich nicht, Lehrer“, sagte Xaver Wrede. Er bückte sich und nahm das kleine Bündel aus Eriks Armen. In den Decken lag das Kind sicher und warm.
Erik sah benommen zu ihm auf. Er leistete keinen Widerstand. „Sie sind es“, sagte er und begann zu lachen. Schluchzer schüttelten seinen Körper. „Gott sei Dank!“
Wrede sah auf ihn hinunter. „Gott ist nicht an diesem Ort.“ Er barg das Kind an seiner Brust und wandte sich ab. Dann lief er los. Aber er ging nicht hinunter ins Tal.
„Wohin wollen Sie?“, rief Erik.
Wrede antwortete nicht, und er drehte sich nicht um. Er ging mit sicheren Schritten auf den großen Graben zu.
„Xaver!“, schrie Erik und rappelte sich auf. Er stöhnte und setzte sich schwankend in Bewegung. Neben Annas erstarrtem Körper hielt er kurz inne, bückte sich und hob die Schrotflinte auf. „Ich dachte, Sie sind auf unserer Seite!“, schrie er. „Xaver!“
Wrede schien ihn nicht zu hören. Er marschierte unbeirrt durch den Schnee und den Sturm. Erik folgte ihm. Er fühlte sich wie ein Betrunkener, der jede Orientierung verloren hatte. Der Wind schob ihn hierhin und dorthin, und er wankte von einer Seite auf die andere. „Wrede!“, schrie er, und seine Stimme überschlug sich. „Bleiben Sie stehen!“
Wrede hatte den großen Graben beinahe erreicht.
Erik wühlte sich halb besinnungslos durch den Schnee. Der Abstand zu Wrede verringerte sich bis auf wenige Meter. Erik hob die Schrotflinte. „Bleiben Sie stehen oder ich schieße!“
Xaver Wrede verlangsamte seine Schritte. Er drehte sich zu Erik um und betrachtete ihn mit ausdrucksloser Miene. Erik torkelte auf ihn zu. Er presste Wrede den Lauf der Schrotflinte an den Kopf. „Was tun Sie da?“, schrie er, und der Speichel, der von seinen Lippen flog, gefror auf seinem Kinn, verwehte im Wind.
Wrede erwiderte seinen Blick ausdruckslos. „Wollen Sie mich erschießen, Lehrer?“, fragte er. „Haben Sie überhaupt eine Patrone in Ihrem Lauf?“
Erik fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie waren kalt und rissig wie das Eis des Gletschers. Langsam ließ er die Flinte sinken.
„Was tun Sie da?“, wiederholte Erik und schluckte.
„Ich bringe es zu Ende.“
„Warum?“
„Weil einer es tun muss.“ Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter. Hinter ihm klaffte schwarz und bodenlos der Abgrund des großen Grabens.
Erik wich einen Schritt zurück. „Geben Sie mir das Kind, Xaver. Bitte!“
„Das kann ich nicht. Die Leben von zweihundert guten Menschen stehen auf dem Spiel.“
„Aber wir sind auf derselben Seite!“, schrie Erik.
„Ich verstehe nichts von unterschiedlichen Seiten“, sagte Xaver Wrede. Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte traurig. „Meine Treue gehörte immer nur einem Mann. Unserem Pfarrer, Thomas Hellermann. Er ist ein guter Mann.“
„Er ist tot! Und er hat Thannsüß zu einem Spielplatz des Teufels gemacht!“
„Er hat die Entscheidung nicht alleine getroffen, Lehrer. Wir alle waren es. Jeder einzelne von uns. In jener Nacht waren wir wie von Sinnen. Der Schmerz hat uns um den Verstand gebracht. In diesem Moment wollten wir alle nur ein Ende des Schmerzes, ein Ende des Weinens und Wehklagens. Wir wollten unsere toten Brüder und Schwestern wieder in unseren Armen halten. Wir wollten das Leben ! Dass wir uns für den Tod entschieden haben, wurde uns erst viel später klar. Als unsere Toten äußerlich unversehrt aus der Erde krochen.“ Er schloss kurz die Augen und presste die Zähne aufeinander. „Er hatte sie zurückgeholt, wie er es versprochen hatte. Aber ein Teil von ihnen
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