Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
bedeckte Gletscherzunge bis hinunter zum Schmelzwasserfluss. Er lief einfach vorwärts, immer weiter, über das Geröllfeld und auf dem Schafspfad durch den Tannenwald, und stets hatte er dabei die dunkle Blutspur vor Augen. Als er Benedikts Hof erreichte, hatte er längst jedes Zeitgefühl verloren.
Auf der Hauptstraße hatten sich die Einwohner von Thannsüß versammelt. Sie standen reglos im tobenden Sturm. Als sie ihn erblickten, ging ein Zittern durch die Menge. Sie kamen langsam auf ihn zu, wankende Gestalten in der Dunkelheit. Er hob die Schrotflinte und feuerte in die Luft. Sie zeigten keine Reaktion. Als Erik die Flinte nachlud, verschütteten seine tauben Hände die Hälfte seiner verbliebenen Patronen im Schnee. Das Kind lag schwer in seiner Armbeuge.
Er lief die Auffahrt zu Benedikts Haus hinauf und überquerte den Hof. Der Sturm hatte Schneewehen angehäuft, und er bahnte sich seinen Weg zwischen ihnen hindurch. Er bewegte sich langsam und ungelenk. Hinter ihm rückte die Menge näher. Das Haus lag dunkel vor ihm. Aus dem Stall drang das Muhen der Kühe zu ihm. Sie klangen unruhig. Er legte seine Hand auf den eisbedeckten Türknauf und rüttelte an der Eingangstür. Sie war abgeschlossen.
Er wandte sich zu der Menge um. Die Einwohner von Thannsüß drangen auf ihn ein wie ein dunkler, wogender Ozean. Nur noch wenige Meter lagen zwischen ihnen. Dann traten die ersten in den Lichtkreis seiner Lampe. Panik erfasste ihn. Erik erkannte Lothar Brants Frau und seine beiden Töchter. Sie näherten sich mit ausdruckslosen Gesichtern.
Er schoss Lothars Frau in den Kopf. Ihr Körper verformte sich grotesk, noch ehe er in einer Schneewehe versank. Ihre Töchter wühlten sich durch den roten Schnee auf Erik zu. Er lud die Flinte nach. Er erschoss sie beide und beobachtete mit versteinerter Miene, wie ihre Gliedmaßen von ungeheuren Kräften verrenkt und zerschmettert wurden, noch während sie zu Boden sanken. Erik schob zitternd eine Patrone in den Lauf und richtete die Schrotflinte erneut auf die Menge, aber es waren zu viele. Sie kamen von allen Seiten. Er presste den Rücken gegen die Tür. Seine klammen Finger hatten nahezu alle Patronen aus seinen Taschen gewühlt und zu seinen Füßen verstreut. Er drehte sich um, packte die Flinte so fest er konnte und schlug mit dem Knauf auf das Türschloss ein. Beim dritten Schlag gab das Schloss nach. Erik trat mit dem Fuß gegen die Tür. Sie schwang auf und knallte gegen die Wand. Er taumelte ins Haus und schlug die Tür zu. Dann packte er das Regal an der gegenüberliegenden Wand und riss es um. Es stürzte mit einem lauten Krachen gegen die Tür. Krüge und Gläser zerschellten auf dem Boden.
Er durchquerte den Flur. Schatten flohen vor dem Schein seiner Lampe. Erik warf einen Blick in die Küche, doch sie war leer. Er blieb stehen und lauschte. Das Kind weinte leise in seinen Armen. Der Wind peitschte Schnee und Eis gegen die Scheiben und zerrte wütend an den Fensterläden. Die alten Balken ächzten und stöhnten. Hinte r ihm knarrten die Bodendielen.
Er ik fuhr herum. Sein Herz raste.
Er war allein. Auf der anderen Seite des Flurs führte eine Tür in die Wohnstube. Er ging langsam darauf zu. Im Türrahmen blieb er stehen und spähte nach rechts und nach links. Dann trat er ein. Im selben Moment traf ihn die Holztür im Gesicht wie ein Vorschlaghammer. Heißes Blut spritzte aus seiner gebrochenen Nase. Sein Finger krümmte sich reflexartig um den Abzug der Schrotflinte. Der Schuss löste sich. Die Schrotladung riss ein faustgroßes Loch in die Bodendielen. Die Petroleumlampe flog ihm aus der Hand und zerschellte an der Wand hinter ihm. Petroleum spritzte über den Boden und entzündete sich. Erik taumelte rückwärts. Er presste das Kind fester an sich.
Die Tür schwang nach innen, und plötzlich stand Benedikts Magd Bettina vor ihm. Sie stürzte sich auf ihn wie eine Furie. Sie trat ihm die Schrotflinte aus der Hand. Die Waffe schlitterte polternd über die Dielen. „Was wollen Sie hier?“, schrie Bettina. „Haben Sie nicht schon genug Unheil angerichtet? Verlassen Sie dieses Haus!“
Sie schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, und der Schmerz in seiner gebrochenen Nase ließ ihn aufschreien. Er hielt das Kind fest umklammert und parierte ihren nächsten Schlag mit der freien Hand. „Aufhören!“, schrie er.
„Verschwinden Sie von hier!“, brüllte sie.
„Wo ist Benedikt?“
„Lassen Sie ihn in Ruhe! Haben Sie vollkommen den Verstand
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