Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
flüsterte Erik.
„Geben Sie jetzt nicht auf“, sagte Gutenberg. Er legte eine Hand in Eriks Nacken. Die Berührung rief eine ferne Erinnerung an Leben in Erik wach. „Bitte, geben Sie nicht auf“, flehte Gutenberg. „Wir haben es fast geschafft.“
Erik spuckte saure Galle in den Schnee. Der Wind trug das Weinen des Kindes zu ihnen herüber.
Anna stand am Rand des Lichtkreises von Benedikts Lampe. Sie drückte das Kind zitternd an sich.
Erik und Gutenberg liefen auf sie zu. Eine Sturmböe riss sie beide von den Füßen, aber sie rappelten sich auf und rannten weiter, bis die Lichtkegel der beiden Lampen sich überschnitten und endlich vereinten. Wenige Meter von der Wirtschafterin entfernt blieben sie stehen. Erik öffnete den Mund, doch es kam kein Laut über seine Lippen. Ihm war, als hätten sich schwere, nasse Taue um seinen Hals und um seine Brust gelegt.
Du musst es vergessen, Junge ! , donnerte die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Vergiss, was du gesehen hast!
Eriks Brustkorb fühlte sich an, als müsste er unter der Last der Seile kollabieren. Das kann ich nicht , dachte er.
Doch, das kannst du! Du hast deinen Bruder sterben lassen und hast es vergessen, also kannst du alles vergessen, wenn du es willst. Alles!
Das Bild von Hendrik, wie er unter dem Balken in dem brennenden Bunker lag und ihn um Hilfe anflehte, schoss ihm durch den Kopf. Dann der Feuerstrahl, der den Bunker füllte wie brennendes Wasser, die Explosion, die Stille. Ich habe es nie vergessen. Nicht einen Augenblick.
Doch, das hast du ! , brüllte sein Vater. Du hast deine Schuld vergessen!
Nein ! , schrie Erik. Deshalb bin ich hier. Ich habe es nie vergessen. Nicht einen einzigen Tag. Ich werde es wieder gut machen!
Ich warte auf dich , sagte sein Vater.
Und plötzlich fielen die Seile von ihm ab, als habe ein Messer sie durchtrennt. Die kalte, schneidende Luft füllte seine Lungen, pumpte sie auf wie einen Blasebalg. Schließlich fand er die Kraft zu sprechen. „Geben Sie mir das Kind, Anna!“ Er ging auf sie zu und hob die Pistole.
„Sie waren so ein guter Junge, Erik. So ein guter Junge! Was ist nur mit Ihnen geschehen?“ Annas Lippen bebten.
„Geben Sie mir das Kind!“, wiederholte Erik.
„Warum müssen Sie alles zerstören?“
Erik blinzelte. Er spürte warme Tränen auf seinem eisverkrusteten Gesicht. „Ich werde schießen, Anna.“
Sie sah ihn lange an, so als suchte sie in seinem verzerrten Gesicht nach einer Antwort. Und während sie ihn ansah, erlosch der letzte Hoffnungsfunke in ihren Augen und ließ nichts als Finsternis zurück. „Jetzt ist alles vorbei“, flüsterte sie. „Nehmen Sie das Kind.“ Sie streckte die Arme aus und hielt Erik das in Decken gehüllte Kind entgegen. „Nehmen Sie es.“
Gutenberg ging an Erik vorbei, nahm Anna das Kind aus den Händen und betrachtete es kurz. Er nickte Erik zufrieden zu und zog sich langsam an den Rand des Lichtkegels zurück. „Es ist gesund! Verschwinden wir. Es gibt hier nichts mehr für uns zu tun!“
Ein metallisches Klicken ließ Erik herumfahren. Anna hatte die Schrotflinte unter ihrem Mantel hervorgeholt und den Hahn gespannt.
„Tun Sie das nicht, Anna.“ Erik richtete den La uf der Pistole auf ihr Gesicht.
Anna sah ihn traurig an und hob die Schrotflinte.
„Anna!“, schrie Erik. „Weg mit der Waffe!“
Sie hob den Lauf weiter an. Dann verharrte er zitternd in der Luft, die Mündung auf Eriks Brustkorb gerichtet. „Halten Sie uns nicht für schlechte Menschen, Erik“, sagte sie leise. „Sie hätten dasselbe getan an unserer Stelle.“
„Anna, tun Sie das nicht“, keuchte Erik.
„Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's erhalten. So spricht der Herr.“ Anna warf die Schrotflinte in den Schnee. „Jetzt ist alles aus“, flüsterte sie. Ihre dunklen, verwirrten Augen zuckten über Eriks Gesicht. Alles Leben war aus ihrem Blick gewichen. Tränen waren auf ihren Wangen gefroren. Anna ließ sich langsam zu Boden sinken und setzte sich in den Schnee. Erik blickte auf sie hinunter, dann ging er vor ihr in die Hocke. „Anna, stehen Sie auf“, sagte er.
Sie antwortete nicht.
„Anna!“
Ihre Augen fanden ein letztes Mal die seinen. „Ich werde wohl einfach eine Weile hier bleiben“, sagte sie leise. „Sehen, was passiert.“ Dann wurden ihre Augen starr. Er packte ihre Schultern und schüttelte sie, aber sie reagierte nicht mehr. „Anna!“, rief
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