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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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er. „Stehen Sie auf!“ Schneeflocken tanzten um sie herum, landeten auf ihrer Kleidung und in ihren Haaren. Sie hüllten sie ein wie eine weiße Daunendecke.
    Die Kälte tötete jedes Gefühl in Eriks Gliedmaßen. Er wandte sich zitternd ab. Sein Sichtfeld pulsierte mit jedem flatternden Schlag seines Herzens. „Gutenberg!“, schrie er und drehte sich langsam um sich selbst. Tränen gefroren auf seinen Wangen. „Gutenberg, wo sind Sie?“
     
    Und dann sah er ihn. Der Arzt stand am Rande des Lichtkegels. Der Schein der Lampe warf flackernde Reflexionen auf die vereisten Gläser seiner Brille. Gutenberg öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch es drang nur ein gurgelndes Zischen heraus. Sein Kopf wurde mit einem Ruck nach hinten gerissen. In seinem Hals öffnete sich ein roter Schlitz. Blut schoss aus seinen durchtrennten Arterien. Gutenberg drückte das Kind mit einer Hand fest an seine Brust. Die andere Hand tastete zitternd nach seinem Hals und legte sich auf die Wunde, so als wollte er den klaffenden Spalt damit verschließen. Sein Mund formte stumme Worte. Blut sprudelte zwischen seinen Fingern hervor und zeichnete dunkle Muster in den Schnee. Dann stürzte er zu Boden und begrub das Kind unter sich.
    Hinter ihm tauchte Kathi Brechenmachers gebeugte Gestalt auf. Der Wind zerrte an ihrem Haar. Das Lächeln war auf ihr Gesicht zurückgekehrt. In der rechten Hand hielt sie eine Rasierklinge. Sie glänzte rot und feucht.
    „Was haben Sie getan?“, keuchte Erik, und der Wind zerfetzte ihm die Worte noch im Mund. Er spürte, wie seine Kräfte ihn verließen. Er sank auf die Knie.
    „Sie werden hier oben sterben!“, schrie Kathi Brechenmacher und hob das Rasiermesser. „Sie und Ihre gesamte Brut!“ Sie rannte auf Erik zu.
    Eine gewaltige Sturmböe traf Eriks Oberkörper von hinten wie eine Lokomotive, riss ihn um und drückte ihn tief in den Schnee. Als er den Kopf hob, hatte die Windböe Kathi Brechenmacher gepackt und hoch in den Nachthimmel gehoben. Ihre Schreie trudelten durch die Luft wie zerfetztes Papier. Der Sturm wirbelte ihren Körper herum, als sei er nicht schwerer als vertrocknetes Laub. Dann rauschte die nächste Böe heran, presste Erik zurück in den Schnee und schleuderte Kathi Brechenmachers Körper über den Rücken des Gletschers und weit über seine Kante hinaus in die Dunkelheit. Ihr gellender Schrei klang noch lange in Eriks Ohren nach.
     
    Er ließ die Pistole in den Schnee fallen und richtete sich benommen auf. Alles, woran er noch denken konnte, war das Kind. Alles, was er noch wusste, war, dass er es retten musste. Er kroch auf Gutenberg zu und drehte den Körper des Arztes auf den Rücken. Gutenberg röchelte, und eine Blutwolke stob in die Luft. Erik hob das Kind aus dem Schnee und drückte die blutverschmierten Decken an sich.
    „Gutenberg?“, keuchte er.
    Plötzlich schoss die Hand des Arztes vor und umklammerte seinen Arm. Erik schrie erschrocken auf. Gutenberg zog ihn zu sich herunter. „ Strauss“, röchelte er. Sein Atem zischte gurgelnd durch den Schnitt in seinem Hals. Erik hatte Mühe, die Worte zu verstehen, die rot über seine Lippen brodelten. „Bevor ich gehe, ein letztes Wort. Ich weiß, es ist wichtig … für Sie.“ Er stöhnte und wand seinen Kopf auf dem roten Schnee hin und her. Erik legte ihm eine Hand auf die Stirn.
    „Was ich Ihnen über Ihren Vater gesagt habe, war eine Lüge. Ihr Vater ist hier. Wagner hat es herausgefunden.“ Die Worte zischten und blubberten wie kochendes Wasser au s seinem Mund, aus seinem Hals.
    Ein dumpfes Pochen setzte in Eriks Kopf ein.
    Krämpfe schüttelten Gutenbergs Körper. Die Sätze kamen jetzt hart und stoßweise. „Der Zeitpunkt, das Unwetter, die Flugroute, es stimmt alles! Ihr Vater ist über den Alpen abgestürzt. Direkt hier auf dem Grimbold.“
    Das Pochen hinter Eriks Stirn wuchs zu einem Hämmern an. Das Rauschen seines Blutes formte geflüsterte Worte, und das Brausen des Sturms schrie seinen Namen. In seinem Kopf vereinten sich die Stimmen zu einer einzigen. Er kannte sie gut. Es war die Stimme seines Vaters. Erik, mein Junge. Komm zu mir. Es gibt so viel zu bereden. So vieles zu klären!
    Erik presste das Kind fester an sich. „Warum haben Sie mich angelogen?“, schrie er.
    Gutenberg drückte sich kraftlos eine Hand auf den Hals. Rot quoll das Leben zwischen seinen Fingern hervor und versickerte im Schnee, bis sein Gesicht so weiß war, dass es sich leuchtend vom dunklen Untergrund abhob.

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