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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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den Scheiten, und Erik spürte die Hitze über sein Gesicht wabern. „Ist alles in Ordnung, Thomas?“
    Der Pfarrer legte seine Fingerspitzen aneinander. „Ich habe Ihre Akte gelesen, Erik. Ich hoffe, das ist Ihnen nicht unangenehm. Ihre alte Schule, Sankt Augustin, hat sie uns geschickt, und ich konnte nicht umhin, einen Blick hineinzuwerfen. Sie hatten einen Bruder. Hendrik, richtig? Erik und Hendrik, das sind beides recht nordische Namen.“
    Erik rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her. „Mein Vater war aus dem Norden“, sagte er dann. Das Feuer im Kamin schien ihm mit einem Mal zu grell, zu heiß. „Hören Sie, Thomas. Mein Bruder ist tot“, sagte er leise.
    Der Pfarrer nickte. „Wie ist er gestorben?“
    „Es war Krieg“, sagte Erik. „Er ist gefallen. An der Heimatfront, in den letzten Kriegstagen.“
    „Er war ein Jahr jünger als Sie.“
    Das Feuer im Kamin fauchte und brauste, als die Flammen höher schlugen. Die Hitze versengte Eriks Gesicht. Er wandte sich ab. „Das ist richtig“, murmelte er.
    Das Feuer kroch über die holzvertäfelten Wände, und mit einem Mal füllten sich Eriks Lungen mit Qualm und Ruß. Die Flammen schlugen höher. Er hatte das Gefühl zu verbrennen. Als der Schmerz unerträglich wurde, schloss er die Augen und atmete tief durch. Atemzug für Atemzug zogen die Flammen sich zurück. Bleib ganz ruhig, dachte er. Atme langsam und regelmäßig. Das alles ist so lange her.
    „Verzeihen Sie, Thomas.“ Er versuchte das Zittern in seiner Stimme zu verbergen. „Ich möchte lieber nicht über dieses Thema sprechen.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
    „Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“ Der Pfarrer lächelte ihn entschuldigend an. „Am besten gehen Sie gleich zu Kathi, damit Sie die Bücherbestellung noch heute aufgeben kann.“
    „In Ordnung. Ich wollte Sie noch um etwas bitten.“
    „Ja?“
    „Könnten Sie mir eine Liste der Schüler besorgen? Ich kenne die Namen der Kinder gar nicht.“
    „Natürlich. Ich werde eine Liste für Sie anfertigen. Stellen Sie sich auf zehn, nein, eher zwölf Schüler ein. Brauchen Sie sonst noch etwas?“
    „Danke, das wäre alles. Wiedersehen, Thomas.“ Erik erhob sich und ging auf die Eingangshalle zu.
    „Ach, Erik“, rief der Pfarrer und hob eine Hand.
    Erik drehte sich zu ihm um. „Ja?“
    „Wir sind froh, Sie bei uns zu haben.“
    Nach einem Moment des Zögerns erwiderte Erik: „Ich bin froh, hier zu sein.“
    Der Pfarrer nickte müde.
    Erik wandte sich ab, durchquerte die Eingangshalle und ging den Flur hinunter. Als er das Pfarrhaus verließ, schlugen die Uhren zur vollen Stunde. Ihr dissonantes Konzert verklang hinter ihm. Er ging ins Gästehaus, steckte den Brief an Marie ein und überquerte den Kirchhof. Am Rande des riesigen schwarzen Flecks blieb er stehen. Das Gras zu seinen Füßen war braun und verdorrt. Wenige Zentimeter vor ihm wich das Gras der toten Erde. Der schwarze, verwüstete Boden wirkte so abstoßend, dass er instinktiv einen Schritt zurücktrat. Der Fleck nahm fast sein gesamtes Blickfeld ein. Und mit einem Mal tauchte aus den Tiefen seiner Erinnerung das Datum wieder auf, das ihm der Pfarrer an seinem ersten Tag in Thannsüß genannt hatte: der 19. April 1944.
    Eine tobende Nacht.
    Ein Gewittersturm.
    Ein deutscher Jagdbomber.
    Vor seinem inneren Auge sah er die Bombe vom sturmgepeitschten Himmel fallen, einen monströsen Stahlzylinder, bis zum Rand gefüllt mit einer todbringenden Fracht. Er sah, wie sich die Bombe tief in die aufgeweichte Erde bohrte. Er sah die Druckwelle, die den Boden hob wie ein Tischtuch, das man ausschüttelt, sah die Erde aufsteigen und sich ausbreiten wie ein Blumenstrauß, der auseinander fällt, und dann das Feuer, das mit der ungeheuren Kraft und der endgültigen Gewalt eines hungrigen Raubtiers aus der schwarzen Säule aus Dreck hervorbrach. Dann blinzelte er, und die Bilder waren verschwunden. Nur der schwarze Fleck blieb zurück, riesig und stinkend und leblos. Hoch über Thannsüß wehte der Wind über die zerklüftete Eisfläche des Gletschers. Erik lauschte. Es war, als riefen Hunderte Stimmen ihn zu sich.
    Er wusste nicht, wie lange er dort gestanden, den toten Fleck betrachtet und dem Gesang des Gletschers gelauscht hatte, als eine Stimme ihn aus seiner Starre riss.
    „Geht es Ihnen gut, Erik?“
    Erik fuhr erschrocken herum. Anna stand hinter ihm und musterte ihn besorgt.
    „Anna. Sie haben mich erschreckt.“
    „Das habe ich gemerkt! Sie

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