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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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trank sie leer, ehe er sie achtlos in den Schnee fallen ließ.
    Eiskristalle sammelten sich in seinem mächtigen Schnauzbart und bedeckten die linke, dem Wind zugewandte Seite seines Gesichts, mit einer dünnen, funkelnden Kruste. „Komm her, du machst es nur noch schlimmer.“ Mit leisem Prasseln hämmerten Eispartikel auf seinen Körper ein. Schneeflocken umtanzten ihn, als wäre er das Auge eines Wirbelsturms. Sie schienen aus allen Richtungen zu kommen und ließen sich auf seiner Uniform nieder wie glitzernde weiße Schmetterli nge.
    „Ich werde dich lehren, was es heißt, ein Mann zu sein, du jämmerlicher kleiner Feigling!“ Theodor Strauss hob die rechte Hand und ließ den Gürtel durch die Luft sausen. Weiße Flocken regneten von seinem Arm wie Herbstlaub, das der Sturm von den Bäumen reißt. Er trat einen Schritt auf seinen Sohn zu. Erik wich zurück und schützte sein Gesicht mit den Händen vor den Eiskristallen, die auf seine Haut trafen wie feine Nadelstiche. Der Wind zerrte an ihm.
    „Verschwinde!“, brüllte er, doch der Sturm trug seinen Schrei mit sich fort. Sein Vater kam näher und ließ erneut den Gürtel durch die Luft peitschen. „Ich werde dich lehren, was es bedeutet, deines Bruders Hüter zu sein!“
    Theodor Strauss kam näher. Inzwischen bedeckte Schnee seinen gesamten Körper, so dass man die Uniform darunter nicht mehr erkennen konnte.
    Während Erik Schritt für Schritt zurückwich und dabei gegen den Sturm ankämpfte, wurden die Schritte seines Vaters langsamer. Sein Gesicht war von einem Panzer aus Eis umhüllt, der geöffnete Mund d arin eine schwarze Höhle.
    Schwerfällig hob er ein Bein vor das andere. Dicke Schneewehen hingen an seinem Körper wie Daunenkissen, Eiszapfen wuchsen aus seinen Armen. Ein Klagelaut drang aus dem dunklen Loch in seinem Gesicht. Flocken strömten aus allen Himmelsrichtungen auf seinen Mund zu, als würde er die Luft ansaugen wie ein Flugzeugtriebwerk. Der Schnee legte sich Schicht um Schicht über seine Stimme wie Watte, bis er den letzten Laut erstickte.
    Theodor Strauss ging in die Knie und legte seinen schneeschweren Kopf auf das Eis. Bald war sein gekrümmter Rücken nur mehr eine weitere Erhebung auf der unendlichen, zerklüfteten Fläche des Gletschers.
    Erik starrte auf die Gestalt seines Vaters, die er unter der dicken Schicht aus Schnee und Eis nur noch erahnen konnte. Der Sturm peitschte weitere Schneemassen heran, die den menschlichen Körper innerhalb weniger Sekunden vollständig unter sich begruben. Und dann war sein Vater verschwunden.
    Theodor Strauss war zu einem Teil des Gletschers geworden.
     
    Erik erwachte mit einem Schrei auf den Lippen und Tränen auf den Wangen. „Hendrik?“, flüsterte er, „Vater?“. Aber er war allein im Gästehaus. Allein mit seiner Angst und seiner Schuld.
    Aber da war noch etwas. Das Datum, das der Pfarrer ihm an seinem ersten Tag in Thannsüß genannt hatte. Der 19. April 1944. Und in sich spürte er das brennende Verlangen, endlich den Gletscher zu besteigen. Mit jedem Tag wurde es stärker, und noch nie war es so stark gewesen wie in diesem Moment. Dort oben warteten Antworten auf ihn, er spürte es tief in seinem Inneren. Antworten auf so viele Fragen.
    Er hatte so viele Fragen.

Kapitel 17
     
    Die folgenden Tage flogen vorüber wie die Wolkenschleier, die der Oktoberwind um den Gipfel des Großen Kirchners jagte. Erik steckte seine gesamte Kraft und all seine Energie in die Renovierung des Klassenraums und vergaß darüber völlig die Zeit. Wenn er arbeitete, dachte er nicht an Hendrik oder seinen Vater. Er dachte nicht an den Gletscher. Er dachte auch nicht an Cornelius Piel und an das seltsame Gespräch mit Lothar, mit dem er seitdem kein Wort mehr gewechselt hatte. Zumindest schien Lothar ihre Unterhaltung für sich behalten zu haben, denn weder der Pfarrer noch Benedikt Angerer hatten Erik zur Rede gestellt oder ließen eine Veränderung ihres Verhaltens ihm gegenüber erkennen.
    Die Stunden zerrannen ihm zwischen den schwieligen, mit Blasen übersäten Fingern. Da auch Xaver Wrede nicht umhin konnte, zu registrieren, wie viel Schweiß und Herzblut Erik in die Renovierung steckte, besserte sich seine Laune zusehends. Er hatte seine Hunde, Lucy und Arco, mitgebracht. Während Arco Erik nur einmal anbellte und seine Gegenwart dann akzeptierte, begann Lucy zu winseln, zog den Schwanz ein und beeilte sich, Abstand zwischen sich und den Fremden zu bringen.
    „Was hat sie?“, fragte Erik.

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