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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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mit Erik zusammen und setzte sich rücklings auf den Hosenboden. Der Junge blickte zornig auf. Sein Gesicht war verheult, die Augen rot und verquollen. Ein dicker Rotzfaden hing ihm aus der Nase. Silvia zog ihren Bruder auf die Füße und starrte Erik hasserfüllt an. Tränen liefen ihre Wangen hinunter. „Was wollen Sie hier?“, schrie sie. „Gehen Sie weg. Gehen Sie weg!“
    Noch ehe Erik antworten konnte, liefen die beiden Kinder über den Hof davon und waren im nächsten Moment hinter dem Haus verschwunden. Sie liefen nicht in den Ort , sondern zum Waldrand hinüber.
    Erik brauchte einige Sekunden, um seine Fassung wiederzuerlangen. Dann trat er ein und lauschte in die Stille. Das Erdgeschoss war dunkel und kalt. Rechts von ihm führte eine Treppe ins Obergeschoss. Nach einer Weile vernahm er gedämpftes Stimmengemurmel, das aus dem ersten Stockwerk hinunter drang. Er ging langsam nach oben. Die Treppe mündete in einen Flur, in dem einige Männer und Frauen versammelt waren. Sie wirkten verwirrt. Viele schienen sich in einer Art Schockzustand zu befinden. Eine Frau saß auf dem Fußboden, den Rücken an die Wand gelehnt. Sie wiegte apathisch ihren Kopf hin und her. Ein Mann hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. „Ich halte das nicht mehr aus“, murmelte er wieder und wieder. „Ich halte das nicht mehr aus.“
    In der Ecke unter dem Fenster saß eine Frau, die mit zitternder Stimme betete. Am anderen Ende des Flurs breitete sich ein großer, dunkler Fleck aus, und Erik registrierte, dass sich dort jemand übergeben hatte. Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Aber unter dem ekelerregenden Gestank des Erbrochenen lag ein anderer, bei weitem schlimmerer Geruch. Er war süßlich und metallisch zugleich, und er beschwor Bilder der Schlachtung in Eriks Kopf herauf, deren Zeuge er bei Benedikts Geburtstagsfeier geworden war. Und plötzlich waren da noch andere Bilder, verschwommen und verrauscht wie schlechter Fernsehempfang: Ein verwüsteter, brennender Raum, dessen Decke eingestürzt war und den Blick freigab auf eine Nacht, die von Geschützfeuer in grelle Fragmente zerrissen wurde. Und inmitten des Raums sah er sich selbst, Erik Strauss, in einem jüngeren Körper mit einem jüngeren Geist, der über den Boden kroch und nach etwas suchte, er wusste nicht, nach was, aber es war sehr wichtig, wichtiger als alles andere. Der Boden war voll von Dingen, die er lieber nicht gefunden, nicht berührt, niemals gesehen hätte, rote und glänzende, warme und feuchte Dinge. Und über allem hing dieser schwere, süße Geruch, den er jetzt, im Obergeschoss von Konrads Haus, erneut wahrnahm. Er drängte die Bilder zurück in die Dunkelheit. Ein Schauer brachte seine Glieder zum Zittern. Er wollte fliehen, wollte dieses Haus verlassen, wollte sich im Gästehaus einschließen und vergessen, dass er jemals hier gewesen war. Aber ein anderer Teil von ihm wollte sehen, was diese Menschen in tiefste Verzweiflung gestürzt hatte, wollte die Quelle des schweren Blutgeruchs ergründen.
    Er ging auf die Tür am Ende des Flurs zu, und weiße Gesichter glitten an ihm vorüber wie Nebelschwaden. Eine Hand hob sich zaghaft, und er schob sie beiseite. Dann stieß er die Tür auf. Der süße Geruch füllte mit einem Mal seine Nase, seinen Mund, seinen Rachen, seinen gesamten Schädel. Ein Schwall Erbrochenes schoss seine Kehle hoch, und er presste sich eine Hand auf den Mund und schluckte ihn hinunter. Er befand sich in einem kleinen Schlafzimmer. Vor ihm standen Anna und der Pfarrer. In einer Ecke des Raumes sah er Konrad, Lothar und Benedikt. Sie drehten sich langsam zu ihm um. Die Wände des Raumes waren mit roten Flecken und Striemen übersät, als wäre ein Eimer roter Farbe im Zimmer explodiert. Darunter lag auf dem blutgetränkten Bett die alte Frau, die Erik gestern kurz zu Gesicht bekommen hatte, die Großmutter von Michael und Silvia. Er erkannte Mathilda an ihren langen weißen Haaren. Denn ihre langen weißen Haare waren alles, woran er sie noch erkennen konnte.
     
    Was er sah, sah er nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sofort griffen Konrads starke Arme nach ihm, drehten ihn um die eigene Achse und schoben ihn mit Nachdruck zur Tür hinaus.
    „Das ist nicht für seine Augen bestimmt !“, hörte er den Pfarrer rufen.
    Aber es war bereits zu spät. Was er gesehen hatte, reichte aus, sein Gehirn über die Maßen zu strapazieren. Er reagierte mit dem einzigen Mittel, das dem Verstand zur Verfügung steht, wenn eine

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