Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
träumen am helllichten Tag!“
„Ich war wohl kurz weg.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe dem Gletscher gelauscht. Hören Sie das?“ Erik hob den Zeigefinger. Sie lauschten beide. Nach einer Weile ließ Erik den Finger sinken.
„Ich höre nichts“, sagte Anna.
Er sah sie unsicher an. „Vergessen Sie’s.“
„Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?“
„Ganz sicher.“
„Der Gletscher kann komische Sachen mit Ihrem Kopf anstellen, wenn Sie ihn lassen. Sie sollten besser aufpassen.“
„Ich verstehe nicht?“
„Sie verstehen mich sehr gut.“ Sie sah ihm in die Augen, ohne zu blinzeln.
Er hob sein Gesicht zu den sonnenbeschienenen Eismassen des Gletschers empor. „Ich möchte hoch auf den Gletscher, Anna. Er ruft mich.“ Noch ehe Erik die Worte ausgesprochen hatte, wusste er, dass sie wahr waren. Er wollte auf den Gletscher. Er musste hinauf. Etwas dort oben zog ihn an, etwas, das reine Logik nicht erklären konnte. Waren es die seltsamen Geräusche, die nachts vom Gipfel herunterwehten? Der Gesang, den er heute zu hören geglaubt hatte? Waren es die merkwürdigen Träume, die ihn schweißgebadet aus dem Schlaf schrecken ließen? Oder war es die Stimme, die sich in letzter Zeit immer häufiger unter seine eigenen Gedanken mischte? Diese Stimme, die ihm so fern erschien und die ihm doch nur allzu vertraut war? In diesem Moment wurde ihm klar, dass er die zerklüftete Eiswüste des Gletschers mit eigenen Augen sehen, sie spüren, mit allen Sinnen erfahren musste.
Anna sah ihn seltsam an. „Sie sollten wirklich besser aufpassen“, sagte sie schließlich. Sie schüttelte den Kopf und ging zurück ins Pfarrhaus.
Er lief die Hauptstraße bis zu Kathis Laden hinauf. Er lief schnell, und als er dort ankam, war er völlig verschwitzt.
„Wie sehen Sie denn aus, Erik?“, begrüßte ihn Kathi fröhlich. „Sie sind ja ganz aus der Puste!“
„Allerdings“, keuchte Erik und stützte sich mit den Händen auf der Theke ab. Er atmete tief und gleichmäßig. Langsam ließ das Seitenstechen nach.
„Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen blass aus.“
„Ich bin nur etwas außer Atem. Ich habe hier die Bestellung für die Schule.“ Er zog eine Bücherliste aus der Tasche.
Kathi nahm ihm die Liste aus der Hand und studierte die Titel, dann blickte sie auf. „Oh, das wird eng, soviel kann ich Ihnen sagen! Aber in Weißenbach gibt es eine sehr gute Buchhandlung. Vielleicht haben wir Glück.“
„Das wäre schön“, sagte Erik. „Ich habe hier noch einen Brief an meine Frau“ . Erik reichte Kathi den Brief.
Für einen Moment hatte er das Gefühl, als würde Kathis Lächeln gefrieren. Ihre Augen waren fest auf den Brief gerichtet, während sie wieder und wieder die Adresse las und dabei stumm die Lippen bewegte. Dann war der Moment vorüber. Ihr Lächeln war so strahlend wie das Eis des Gletschers. „Zum Glück wird die Post schon am Samstag abgeholt. Halbermaß nimmt sie mit ins Tal nach Bruch. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Erik?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich muss zurück zum Pfarrhof. Xaver wartet dort auf mich. Wir renovieren den Klassenraum.“
„Ja, ich weiß“, lächelte Kathi. Sie hielt den Brief noch immer in ihren Händen, betastete die Kanten mit ihren Fingern. Ihr Blick folgte ihm, als er den Laden verließ.
Die Dämmerung brach bereits herein, als er das Pfarrhaus wenig später erreichte. Xaver Wrede saß im Obstgarten und presste sich ein rötlich verfärbtes Tuch auf die linke Hand. Erik setzte sich zu ihm. „Haben Sie sich verletzt?“
Wrede nickte, ohne aufzublicken.
„Ist es schlimm?“, fragte Erik.
„Ach was, es ist nur ein Kratzer“, knurrte Xaver Wrede. „Hab mir die Hand an einem Nagel aufgerissen, mehr nicht.“
„Lassen Sie mal sehen.“
Wrede stieß ein ablehnendes Grunzen aus.
„Nun machen Sie schon“, sagte Erik.
Widerstrebend legte Xaver Wrede die Hand auf den Tisch und hob das Tuch an. Ein Riss zog sich quer über seinen Handballen. Blut sammelte sich darin.
„Wie haben Sie das denn angestellt?“, fragte Erik.
„Ein Nagel. Ziemlich scharf.“ Xaver Wrede presste das Tuch wieder auf die Wunde. „Ich hab’s gar nicht gemerkt, bis ich irgendwann das Blut gesehen hab.“
„Haben Sie die Wunde schon gereinigt? Sie sollten das unbedingt desinfizieren, ehe es sich entzündet.“
„Anna hat die Wunde ausgewaschen. Wollen Sie ein Bier?“
„Warum nicht.“ Erik bückte sich und holte zwei kühle Flaschen aus dem Korb unter
Weitere Kostenlose Bücher