Der Teufel trägt Prada
überhaupt einen freien Abend gönnte.
Ich schluckte den Köder, den sie mir hingeworfen hatte. Das machte ich immer, wenn sie sich mal wieder über ihr Leben beklagte. »Und warum machst du es dann, Lily?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort längst auswendig kannte.
Lily schnaubte. »Weil ich es liebe!«, trällerte sie sarkastisch. Sie hätte es zwar nie zugegeben, weil sie viel zu gern herumjammerte, aber sie liebte ihr Studienfach tatsächlich. Sie begeisterte sich schon seit der achten Klasse für die russische Kultur. Damals hatte ein Lehrer zu ihr gesagt, mit ihrem herzförmigen Gesicht und den schwarzen Locken sehe sie genauso aus, wie er sich immer Lolita vorgestellt habe. Sie ging nach Hause und verschlang Nabokovs Meisterwerk, ohne sich von dem Lehrer-Lolita-Aspekt weiter stören zu lassen. Anschließend las sie alles, was Nabokov je zu Papier gebracht hatte. Und Tolstoi. Und Gogol. Und Tschechow. Als sie sich an der Uni bewarb, sagte der Professor, der das Auswahlgespräch führte, er wäre kaum jemals einer besseren Kennerin der russischen Literatur begegnet als der 17-jährigen Lily – egal, ob unter Studenten oder Doktoranden. Ihre Begeisterung hatte mit den Jahren nicht nachgelassen, sie büffelte immer noch russische Grammatik und konnte inzwischen jeden Text im Original lesen. Nur eines tat sie noch lieber: sich über ihr Schicksal zu beklagen.
»Okay, ich gebe ja zu, dass ich einen Traumjob ergattert habe. Wenn ich bloß daran denke. Tommy Hilfiger, Chanel, Oscar de la Renta. Und das alles an meinem ersten Tag. Allerdings habe ich nicht die leiseste Ahnung, wie ich durch diese Arbeit irgendwie näher an den New Yorker rankommen soll, aber vielleicht ist es dafür einfach noch ein bisschen zu früh. Im Moment kommt mir alles total unwirklich vor.«
»Falls du mal wieder das Bedürfnis haben solltest, den harten Boden der Realität unter den Füßen zu spüren, weißt du ja, wo du mich finden kannst«, sagte Lily. »Wenn du dich nach dem Ghetto sehnst, wenn du der Wirklichkeit in Harlem nachspüren willst, bist du in meiner Winzlingswohnung jederzeit herzlich willkommen.«
Ich bezahlte die Rechnung, und wir umarmten uns zum Abschied. Dann versuchte sie noch, mir zu erklären, wie ich am besten mit der U-Bahn nach Hause kam. Ich gab ihr mein gro ßes Indianerehrenwort, dass ich genau verstanden hatte, wie ich erst gehen, dann fahren, dann umsteigen und zuletzt wieder gehen musste, doch sobald sie um die nächste Ecke verschwunden war, sprang ich in ein Taxi.
Nur dieses eine Mal , sagte ich mir, während ich in die warmen Polster des nicht sehr verführerisch miefenden Taxis sank. Schließlich gehöre ich jetzt zur Runway -Truppe.
Der Rest der Woche verging ereignislos, jeder Tag war mehr oder weniger wie der erste. Was mich nicht störte, im Gegenteil. Als Emily und ich uns am Freitagmorgen in dem kahlen, weißen Empfangsbereich trafen, händigte sie mir meinen Firmenausweis aus, samt Foto. Was mich ein bisschen überraschte, weil ich mich nicht daran erinnern konnte, dass ich mich irgendwann hätte knipsen lassen.
»Von den Überwachungskameras«, erklärte Emily, als ich sie verwundert darauf ansprach. »Die Dinger hängen hier überall rum. Wir hatten nämlich ernste Probleme. Diebstähle und so.
Kleidung und Schmuck für die Fotoaufnahmen sind einfach verschwunden. Anscheinend bedienen sich die Kuriere selbst. Und manchmal sogar die Redakteure. Deshalb werden wir jetzt alle überwacht.« Sie zog ihren Ausweis durch das Lesegerät, und die schwere Glastür ging mit einem Klick auf.
»Überwacht? Und wie genau muss ich mir das vorstellen?«
Mit wiegenden Hüften marschierte sie zügig durch den Korridor zum Vorzimmer. Wie immer machte sie in ihrer hautengen Sevens Cordhose eine tadellose Figur. Erst gestern hatte sie mir geraten, mir ebenfalls eine zuzulegen, oder am besten gleich mehrere, da Sevens und MJ die einzigen Marken waren, deren Jeans oder Cordhosen Miranda an ihren Mitarbeiterinnen tolerierte. Sevens und MJs, aber nur freitags und nur zusammen mit hochhackigen Schuhen. MJs? »Marc Jacobs«, sagte sie entnervt.
»Mit den Kameras und den Ausweisen kann man ziemlich genau verfolgen, was die Leute gerade treiben.« Sie stellte ihre Gucci-Tasche auf den Schreibtisch und knöpfte ihren figurbetonten Lederblazer auf, der für Ende November in höchstem Maße ungeeignet war. »Ich glaube nicht, dass sie sich die Überwachungsfilme ansehen, wenn nicht tatsächlich mal wieder
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