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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Zeitpunkt, den er selbst bestimmte, den Käfig verlassen. Oder auch nicht. In Wellensittichkreisen empfahl man einen Freiflug pro Tag. Aber Pavarotti schien mit einem oder zwei pro Woche auszukommen. Sie war immer froh, wenn er die Chance der offenen Tür nicht nutzte. So ersparte sie sich die Mühe des Einfangens. Wenn er nach zehn Minuten noch immer im Käfig herumtrödelte, schloß sie die Tür wieder.
    Pavarotti war Frauengut. Sie hatte ihn schon besessen, als sie Frédéric kennenlernte. Der Vogel war über zehn Jahre alt und hatte ursprünglich einer Freundin gehört. Sie hieß Caroline und hatte mit ihr die Ausbildung zur Krankengymnastin gemacht. Sonia hatte Pavarotti für drei Wochen in Pension genommen, als Caroline mit Freunden im Mittelmeer einen Segeltörn machte. Caroline hätte das gleiche auch für Sonia getan, bloß besaß Sonia keine Haustiere, schon gar keinen Wellensittich.
    Caroline kreuzte also mit ihren Freunden zwischen den griechischen Inseln, und am zweitletzten Ferientag erhielt Sonia einen Anruf, daß Caroline verschwunden sei. Sie waren bei gutem Wind und etwas rauher See unterwegs gewesen, und plötzlich war sie nicht mehr da. Auf Deck dachte man, sie sei in der Kabine, unter Deck wähnte man sie oben. Niemand konnte genau sagen, wann er sie zuletzt gesehen hatte. Die etwas oberflächlichen Suchaktionen der griechischen Marine blieben erfolglos. Caroline wurde als eines der Ertrinkungsopfer jenes Sommers abgebucht.
    Sonia behielt Pavarotti, weil sie zuerst damit rechnete, daß Caroline jederzeit wieder auftauchen würde. Sie mochte nicht glauben, daß ein so fröhliches lautes Mädchen so still und leise aus der Welt verschwinden konnte.
habe mit kurt geschlafen
du spinnst
ja
und
naja
und jetzt
der hält das maul
keiner hält das maul
    An diesem Tag passierte es wieder. Sonia begleitete Frau Lüttgers nach dem Dampfbad in den Ruheraum. Schon als sie ihn betrat, merkte sie, daß etwas anders war. Sie nahm ein Frottiertuch aus dem Wärmeschrank und breitete es über eine Liege. Frau Lüttgers legte sich darauf, und Sonia deckte sie mit einem zweiten warmen Tuch zu. Dabei fiel ihr auf, daß sich das Tuch falsch anfühlte. Nicht nur warm, weich und flauschig, sondern auch kühl, hart und glatt. Wie eine Chromstahlverzierung an einem Amerikanerschlitten.
    Sie ließ das Tuch los und rieb die flachen Hände an ihren Oberschenkeln. Das Gefühl ging nicht weg. Es vermischte sich bloß mit dem des feingewobenen Stoffs ihres weißen Anzugs mit dem Gamander-Schriftzug über der linken Brust.
    Plötzlich wurde ihr klar, was anders war. Jemand hatte den Bedufter neu gefüllt. Ein intensiver Duft nach Bergamotte füllte den Raum. Und dieser Duft war es, den sie an den Händen spürte.
    Sie mußte ein erschrecktes Gesicht gemacht haben, denn Frau Lüttgers fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung?«
    »Nein, nein. Bloß: ich fühle mich nicht so gut. Wenn Sie mich bitte entschuldigen.«
    Sie bat Manuel, der im Personalraum unter dem laufenden Dampfabzug der Kochnische eine Zigarette rauchte, sie zu vertreten, sie fühle sich nicht gut.
    »Was hast du?« erkundigte er sich besorgt.
    »Nichts Schlimmes.«
    »Ach so, das.«
    Sandro Burger kniete neben einer Kirchenbank und schraubte das Kniebrett wieder an. Eines Tages würde er den Lausbuben erwischen, der sich während der Messe die Zeit damit vertrieb, mit seinem Taschenmesser die Schrauben zu entfernen. Wie schnell war etwas passiert. Und dann war er wieder schuld.
    Die Tür ging auf, und eine jüngere Frau kam herein. Eine von denen, die im Gamander arbeiteten. »Von der würde ich mich auch noch massieren lassen«, hatte er gegrinst, als ihm Chasper Sarott vom Steinbock sagte, daß sie Masseuse sei.
    Sie hatte ihn nicht gesehen, und er duckte sich hinter die Bankreihe.
    Die Frau schlug das Kreuz und ging auf den Hauptaltar zu. Auf der Höhe des kleinen Marienaltars zögerte sie und blieb stehen. Sie schaute sich um. Dann ging sie darauf zu und bekreuzigte sich wieder. Sie öffnete ihre Umhängetasche, fischte ihr Portemonnaie heraus und suchte nach einer Münze. Er hörte, wie sie in die Kerzenkasse fiel. Die Frau nahm eine frische Kerze, entzündete sie an der einzigen brennenden und steckte sie in den Kerzenstock.
    Bestimmt fünf Minuten blieb sie reglos am Altar stehen. Sandro Burger wagte nicht, sein Gewicht zu verlagern. Das Knacken seines Knies hätte ihn verraten, so still war es in der Kirche.
    Als sie endlich gegangen war, kam er fast nicht mehr

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