Der Teufel von Mailand
auf die Beine.
Sonia hatte seit der Taufe des jüngsten Kindes von Frédérics gebärfreudiger Schwägerin keine Kirche mehr betreten. Und auch die Jahre davor nur zu Familienanlässen. Aber als sie jetzt aufgewühlt an der hohen, schlichten Fassade von San Jon vorbeiging und sah, wieviel Ruhe und Gelassenheit diese ausstrahlte, blieb sie stehen und ging hinein.
Kühle Stille empfing sie. Beim Altar brannte das ewige Licht und eine Kerze. Etwa in der Mitte des Schiffs flackerte in einem Seitenaltar eine weitere Kerze vor einer Marienstatue. Dorthin ging sie.
Als Teenager, so zwischen dreizehn und sechzehn, hatte sie einen Marienkult betrieben. Sie hatte in ihrem Zimmer einen kleinen Marienaltar aufgebaut, wo sie Räucherstäbchen abbrannte und für den ständig wechselnden Kreis derer, die ihr nahestanden, Kerzen anzündete. Sie hatte die Muttergottes bei all ihren Problemen mit den Eltern, den Freundinnen, den Freunden, der Schule und dem Leben überhaupt zu Rate gezogen. Es sei denn, sie betrafen Themen, die ihr für die Ohren einer heiligen Jungfrau zu intim waren.
Ihre Eltern, die beide nicht religiös waren, hatten diese fromme Phase ihrer Tochter mit spöttischem Schweigen toleriert und waren davon ausgegangen, daß sie vorbeigehen würde. Womit sie recht behalten sollten. Nach Sonias sechzehntem Geburtstag war die Maria verschwunden und durch einen kleinen Buddha ersetzt, der allerdings schon bald seinen Platz mit allerlei Nippes und Andenken aus ihren ersten Ferienreisen ohne Eltern teilen mußte.
Jetzt stand sie, nach bald zwanzig Jahren, wieder vor der Mutter Gottes und bat sie um Rat, Trost und Hilfe. Die Wirklichkeit entglitt ihr. Sie brauchte etwas, an das sie sich halten konnte.
Heilige Maria Mutter Gottes, mach, daß ich Töne wieder nur höre, Gerüche wieder nur rieche, Geschmäcker wieder nur schmecke, Bilder wieder nur sehe und Berührungen wieder nur spüre. Mach, daß ich wieder unterscheiden kann zwischen dem, was ist, und dem, was nicht sein kann.
Wie damals als Teenager zündete sie eine Kerze an. Aber diesmal für sich selbst.
Der Himmel war von einem fast durchsichtigen, milchigen Grau. Es sah aus, als könnte jeden Moment die Sonne durchbrechen. Sonia hatte die Jacke um die Taille gebunden und ging mit schnellen kurzen Schritten den abfallenden Feldweg hinunter. Sie hatte einen langen Spaziergang hinter sich. Das und vielleicht auch ihr Besuch beim Marienaltar hatte ihre Beklemmung vertrieben und einer gewissen Leichtigkeit, fast Heiterkeit, Platz gemacht. Sie hatte sich damit getröstet, daß die Zwischenfälle ja seltener geworden waren. Intensiver vielleicht, aber seltener. Eines Tages würden sie ganz ausbleiben. Und falls nicht, würde sie diese als Bereicherung betrachten. Wer besaß schon das Privileg, Bergamottenduft befühlen und Glockenklänge betrachten zu können?
Da, wo der Weg in die Dorfstraße mündete, stand ein Geländewagen mit einem Tankanhänger, auf dem zwei Sticker klebten. Ein Hanfblatt in den Rastafarben mit dem Text »Positive Vibrations«. Und eine schwarzweiße Kuh mit dem Slogan: »Milch gibt starke Knochen.« Ein Mann mit einer rot verspiegelten Sonnenbrille saß hinter dem Steuer und tat, als beobachte er sie nicht.
Auf der Tafel vor dem Kolonialwarenladen stand: »Heute: Hausgemachte Erdbeerkonfitüre!« Sie trat ein. Die Tür streifte ein Glockenspiel über ihr. Hinter dem Verkaufstisch saß eine hagere ältere Frau, die sich bei Sonias Eintreten erhob. »Guten Nachmittag!« wünschte sie mit hoher, überfreundlicher Stimme. »Sieht aus, als könnte es heuer doch noch ein wenig Sommer geben. Womit kann ich dienen?«
»Ein Päckchen Zigaretten, bitte.«
»Gerne. Welche?«
»Egal, ich rauche sie nicht.«
»Und Sie wissen auch nicht, welche Marke die Person raucht?«
»Nein, sie sind für mich.«
»Aber Sie rauchen sie nicht?«
»Genau.«
»Weshalb kaufen Sie sie dann?« wollte die konsternierte Ladenbesitzerin wissen.
»Weil ich nicht nur deshalb nicht rauchen will, weil ich keine Zigaretten habe.«
Die Frau lächelte gequält. »Auch eine Methode.«
Bei der Post kam ihr Herr Casutt entgegen. Die Augen über seinem Lächeln waren so traurig, daß sie stehenblieb. Und als er ihr »Wie geht’s?« als ernstgemeinte Frage verstand und mit »schlecht« beantwortete, lud sie ihn zu einem Glas im Steinbock ein.
Das Lokal war leer. Nina saß mit einer Zeitschrift an einem der Tische. Sie grüßte, ging hinter die Theke und drehte die Musik des
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