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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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schien eine gute Nacht gehabt zu haben. Keine Minute dauerte es, bis er den Käfig verließ und auf den Kleiderschrank flatterte. Sie schloß die Zimmertür von außen und ging hinunter zum Frühstück.
    Als sie zurückkam, war Pavarotti verschwunden. Jetzt ist das passiert, dachte sie, wovor die Wellensittich-Sachverständigen nicht genug warnen können: Das Tier ist zwischen ein Möbelstück und die Wand gefallen und hat sich beim Versuch, sich zu befreien, die Flügel gebrochen. Nur weil sie zu faul gewesen war, alle diese Sittichfallen mit Zeitungspapier zu verstopfen.
    Doch gerade als sie mit ihrer Taschenlampe – Sonia gehörte zu den Frauen, die statt eines Tränengassprays eine Taschenlampe bei sich tragen – unter die Badewanne leuchtete, hörte sie über sich Pavarottis leises Schnabelknirschen. Sie rappelte sich auf und versuchte, das Geräusch zu orten. Es kam aus dem Käfig. Der Einzelhäftling war freiwillig in seine Isolierzelle zurückgekehrt. Wenn das die gelbe Frau aus dem Zug wüßte.
    Als Sonia die Welt aus Dampf, Duft und Wasser betrat, die jetzt ihr Arbeitsplatz war, fühlte sie sich zum ersten Mal seit vielen Monaten beinahe glücklich. Es war nicht das Glücksgefühl, das sich manchmal nach der genau richtigen Menge Alkohol für einen kurzen Moment einstellte, bevor sie es mit einem weiteren Glas vertrieb. Auch nicht die wilde, rasch abflauende Euphorie, die sie dann und wann erfaßte, wenn sie nach einer Linie Koks aus der Toilette auf die Tanzfläche zurückkam. Und auch nicht die schnurrende Zufriedenheit, die sie hie und da erfüllte, wenn sie in den Armen eines Mannes erwachte, der ihr auch bei Tageslicht noch ein wenig gefiel.
    Es war das ganz normale Glücksgefühl, das sie von damals kannte, als sie noch unbeschwert die Tage in Angriff nahm und ihr Beruf ihr Spaß machte.
    Dr. Stahel hatte ein weißes Frottiertuch um die Hüfte geschlungen, was ihn noch indischer aussehen ließ. Er betrat den Behandlungsraum und gab ihr die Hand. Er löste das Tuch und hängte es an den Kleiderhaken. Weiße Boxershorts, was ihn ihr sofort sympathisch machte. Keiner jener Männer, die sich nackt präsentierten und schauten, wie sie reagierte.
    »Bauch oder Rücken?« fragte er.
    »Bauch.«
    Er legte sich bäuchlings auf den Massagetisch. Sonia deckte Gesäß und Beine mit einem warmen Frottiertuch zu.
    »Irgendein besonderes Problem?« erkundigte sie sich.
    »Ja. Letzte Woche sechzig geworden.«
    Sonia lachte. »Und wo tut das weh?«
    »Überall ein bißchen.«
    Sonia träufelte etwas Massageöl in die Handfläche und rieb die Hände rasch gegeneinander, um sie zu wärmen und ihr Qi zu stimulieren. Sie behielt die Hände einen Moment zusammen, schloß die Augen und atmete tief durch. Dann legte sie beide Hände links und rechts von der Wirbelsäule auf die Lenden ihres Patienten. Seine Haut fühlte sich kühl an.
    Sie strich mit beiden Händen kräftig nach oben zu den Schulterblättern und weiter mit gespreizten Fingern über die Schultern nach außen. Von dort führte sie sie fast ohne Berührung zurück zur Ausgangslage, um sie dann wieder kräftig nach oben zu streichen.
    Danach legte sie ihre linke Hand auf seine linke Seite und die rechte auf den rechten Rand seines Brustkorbs, konzentrierte sich auf seinen Atem und verlagerte, als er ausatmete, ihr Gewicht auf ihre Hände. Sie spürte, wie sich die Muskeln dehnten, verharrte einen Moment und verlagerte ihr Gewicht langsam wieder auf ihre Beine. Dann wechselte sie die Handstellung und wiederholte den Vorgang.
    »Shiatsu?« fragte Dr. Stahel durch die runde Öffnung im Massagebett.
    »Auch.« Sie legte ihre Daumen in die Grübchen oberhalb des Gesäßmuskels und begann sich mit kleinen, tiefen Kreisbewegungen links und rechts von der Wirbelsäule zum Nackenansatz hinaufzuarbeiten und von dort aus mit schwerelosen Händen wieder an den Ausgangspunkt zurückzugleiten.
    Gegen Ende ihres ersten Ausbildungsjahrs hatte sie Massage zum ersten Mal als kreative Tätigkeit empfunden. Damals litt sie, wie viele ihrer Mitschüler, unter den Zweifeln, ob das der richtige Beruf für sie war. Ich weiß nicht, ob ich für Unterhaltsarbeiten geschaffen bin, hatte sie einmal zu ihrem Massagelehrer gesagt, mir liegt mehr das Schöpferische.
    Und er hatte geantwortet: Was ist Ihr Rohmaterial? Ein verspannter, verkürzter, verhärteter, verbackener Rumpfstrecker. Und was ist Ihr Endprodukt? Ein geschmeidiger, weicher, gut durchbluteter, biegsamer Rückenmuskel.

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