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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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gesehen?«
    Sonia warf ihm einen Seitenblick zu. Möglich, daß er etwas betrunken war. Aber die Frage war ernst gemeint.
    »Es gibt Synästhetiker, die das können. – Falsch!«
    Doch, er war ziemlich angeheitert.
    »Falsch! Leute, die das können, stellen sich oft als Synästhetiker heraus. So ist’s richtig. Sie verbinden bestimmte Personen mit einer bestimmten Farbe.«
    »Wie soll das denn aussehen, eine Aura?«
    »Wie ein farbiger Schleier oder so. Schauen Sie mich an.«
    Sie wandte sich ihm zu.
    »Und?«
    »Und nichts.«
    »Wo höre ich auf?«
    »An den Rändern.«
    »Sind Sie sicher?« Er beschrieb eine Kontur über und um sich. »Da ist nichts mehr? Nichts?«
    Sonia schnupperte. »Doch, vielleicht ein kleiner Dunstkreis.«
    Dr. Stahel war verblüfft. »Sie riechen das? Was habe ich gesagt: Das Organ, das es registriert, spielt keine Rolle. Wonach riecht es?«
    Sonia schloß die Augen und konzentrierte sich. »Single Malt? Glenfiddich?«
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis er schaltete. Aber dann brach er in lautes Gelächter aus. Er nutzte seinen Lachanfall als Vorwand, um seinen Arm um Sonia zu legen, und konnte sich nicht mehr erholen, bis im ersten Stock ein Fenster hörbar geschlossen wurde.
    Sonia hielt den Finger an die Lippen. Danach war es nicht mehr schwierig, Dr. Stahel ins Bett zu schicken.
    In der Bar war Vanni dabei aufzuräumen. Der Klavierdeckel war zu, keine Spur von Bob.
    Vanni deutete mit dem Zeigefinger nach oben. Sonia ging zur Bar, setzte sich auf einen Hocker und bestellte »etwas zum Einschlafen«.
    Vanni brachte ihr einen Verveine-Tee. »Er wollte auf die Terrasse«, sagte er. »Aber dann sah er, wie gut du dich mit Stahel amüsierst.«
    »Hast du etwas Stärkeres als Verveine-Tee?«
    Im Zimmer war es warm und stickig. Die Sonne hatte den ganzen Nachmittag auf das Dach gebrannt. Sonia öffnete das Fenster weit und ging ins Bad. Auch dort war es stickig, und es roch nach Wellensittich. Sie deckte den Käfig zu und öffnete den halboffenen Fensterflügel ganz.
    Sie zog ihr Kleid aus, hängte es an einen Bügel, stellte sich vor den Badezimmerspiegel, spritzte etwas Make-up-Entferner auf ein Watte-Pad und begann, die Augen abzuschminken.
    »Sie sehen diese kleinen Abschlaffungen an den Mundwinkeln und Oberarmen und fragen sich: Wann bloß hat das angefangen?« hatte Frau Professor Kummer gesagt. Sonia fragte sich nicht. Sie wußte genau, wann das angefangen hatte. Vor etwas mehr als drei Jahren. Sie saß an ihrem Schminktisch und machte sich fertig für eine der Ballettpremieren, die Frédérics Bank sponserte. Sie hatte Ballett schon als Teenager gehaßt. Diese abgemagerten affektierten Mädchen, die sich für etwas Besseres hielten und neben denen sie sich fühlte wie ein Pferd. Und jetzt mußte sie jedes Jahr mehreren Ballettpremieren beiwohnen. Der einzige Vorteil war, daß sie in der ersten Reihe saß. Von dort aus konnte sie das Getrampel auf der Bühne hören. Das amüsierte sie. Diese federleichten Geschöpfe, die über die Bühne schwebten, und dazu das asynchrone Getrampel wie von einer ausbrechenden Büffelherde. Dieses heimliche Vergnügen half ihr ein bißchen, solche Aufführungen durchzustehen.
    Und an jenem Abend sah sie das entstehen, was Frau Professor Kummer eine kleine Abschlaffung nannte. Sie war beim Lippenschminken am rechten Mundwinkel ein wenig über den Rand hinausgerutscht. Sie zupfte ein Kleenex aus der Box und korrigierte den Fehler. Dabei zog sie die Haut am Mundwinkel nach unten. Als sie sie losließ, ging sie nicht mehr hinauf.
    Während des ganzen Ballettabends hatte sie das Kinn interessiert in die Hand gestützt und mit dem Zeigefinger unauffällig den Mundwinkel hochgehalten. Aber in der Pause, vor dem Spiegel der Damentoilette, hing er immer noch nach unten. Nur für die intime Kennerin jedes Details ihrer Physiognomie sichtbar, aber unbestreitbar nach unten.
    Malu, der einzige Mensch, dem sie davon erzählte, hatte ihr nie geglaubt. Aber Sonia war nicht davon abzubringen, daß sie an jenem Abend live einen winzigen Alterungsprozeß miterlebt hatte. Damals hatte sie zum ersten Mal gewußt, daß sie nicht mit Frédéric alt werden würde. Nicht, weil sie sich vor dem Alter fürchtete. Weil sie sich vor einem Leben fürchtete, bei dem sie so viel Zeit vor dem Spiegel verbrachte, daß sie es kommen sehen konnte.
    Sonia zog sich aus, löschte das Licht und legte sich ins Bett. Bei offenen Fenstern und Vorhängen ließ der Fassadenspot so viel Licht ins

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