Der Teufel von Mailand
schloß die Tür auf und öffnete sie vorsichtig, um Pavarotti nicht zu erschrecken, der vielleicht ihr Freiflug-Angebot angenommen hatte.
Er hatte es abgelehnt. Er war an keinem seiner Lieblingsplätzchen, weder auf der Vorhangstange noch auf dem Schrank, noch auf dem Schirm der Nachttischlampe.
»Faulpelz«, sagte sie und ging ins Bad. Aber im Käfig war er auch nicht. Auch nicht auf einem seiner Plätzchen im Bad.
»Pavarotti?«
War es also doch passiert? War er zwischen die Wand und ein Möbelstück geraten, weil sie es noch immer nicht für nötig befunden hatte, die Zwischenräume mit Zeitungspapier auszustopfen?
Sie holte ihre Taschenlampe und leuchtete hinter die Waschkommode, den Schrank, das Nachttischchen, das Bett. »Pavarotti?« rief sie, »Pavarotti?«
Und plötzlich wußte sie, was passiert war. Sie ließ die Lampe fallen und rannte aus dem Zimmer.
7
»Was ist passiert?« rief Igor ihr nach, als er Sonia die Treppe herunter und durch die Lobby zum Eingang des Wellness-Bereichs rennen sah.
Sonia gab keine Antwort. Sie betrat das stille Bad und eilte auf die Treppe zu, die in den unteren Stock führte. Das Notlicht warf bläuliche Lichtflecken auf die polierten Granitwände, die Gummisohlen ihrer Joggingschuhe, die sie immer noch trug, begleiteten jeden Schritt mit einem hämischen Quieken.
Sie erreichte die Tür zum Ruheraum und zögerte einen Moment. Dann öffnete sie sie leise und vorsichtig.
Der Raum lag im Dunkeln, nur das Aquarium warf sein grünes Licht auf die am nächsten stehenden Liegebetten.
Ruhig stiegen die Schnüre aus Sauerstoffperlen an die Wasseroberfläche, reglos standen die Wasserpflanzen im grauen Sand. Aber unter den Fischen herrschte eine seltsame Hektik. Abrupt änderten sie die Richtung, pfeilten durcheinander, blieben stehen und schnellten wieder los.
Sonia trat an das Aquarium heran. Und da schwamm er, neben dem Sauerstoffsprudel, fast an der Oberfläche. Winzige Luftbläschen hatten sich entlang seiner Flügel festgesetzt, und seine blauen Brustfedern wogten im bewegten Wasser wie seltene tropische Algen.
Das Licht ging an im Raum, und Sonias Gesicht spiegelte sich im Glas des Aquariums. Ein Arm legte sich um ihre Schultern. Es war Igor, der ihr gefolgt war. Sie legte den Kopf an seine Brust und schluchzte los.
»Besser?« fragte Manuel. Sonia lag in einem der Behandlungszimmer auf dem Massagebett und fühlte sich tatsächlich besser. Sie stand nicht mehr unter Schock, und die Angst war verflogen. Aber sie wußte, daß das vorübergehend war. Manuel hatte ihr ein Temesta gegeben.
An jenem Tag damals hatten die Polizisten, die Frédéric verhafteten, den Krankenwagen gerufen. Bereits auf der Fahrt hatte der Notarzt ihr ein Temesta gegeben. Als sie kurz darauf in der Notfallstation eintrafen, war sie ganz ruhig und gleichgültig gewesen. Man hatte ihre Lippe genäht und ihre anderen Verletzungen – Abschürfungen, Blutergüsse, Prellungen – fotografiert, protokolliert und behandelt.
Man hatte sie mit Verdacht auf eine leichte Gehirnerschütterung für die Nacht im Spital behalten. Sie war in den frühen Morgenstunden aufgewacht, und die Angst war wieder dagewesen. In Panik hatte sie der Nachtschwester geklingelt, und als diese auf sich warten ließ, war sie aufgestanden und auf den halbdunklen Gang hinausgegangen. Weit hinten in einem verglasten Büro brannte Licht. Sie eilte hin und sah eine Krankenpflegerin, die einen Nußgipfel aß und in einer Zeitschrift blätterte. Die Frau begleitete sie mißmutig ins Zimmer, gab ihr ein Temesta und ging zurück zu ihrem Nußgipfel.
Sonia hatte lange gebraucht, um vom Temesta wieder loszukommen. Aber im Moment hatte das Medikament den Vorteil, daß sie ganz distanziert über die Sache reden konnte. »Was habt ihr mit ihm gemacht?«
»Igor hat ihn rausgefischt.«
»Und?«
»Entsorgt.«
»Armer Pavarotti. Ertrunken, wie Caroline.«
»Welche Caroline?«
»Seine frühere Besitzerin, eine Freundin von mir. Ist irgendwo bei den Griechischen Inseln ertrunken.«
Manuel schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Glaubst du es jetzt?« wollte sie wissen.
»Was?«
»Wenn zum Fisch wird der Vogel. Jemand spielt die Sage nach. Den Teufel von Mailand.«
»Sieht fast so aus«, räumte Manuel ein. »Aber wer?«
»Jemand aus dem Dorf.«
»Und warum?«
»Es hat mit Barbara Peters zu tun.«
»Weshalb dann dein Wellensittich?«
»Sie besitzt keinen.« Sonia richtete sich auf und rutschte vom Massagebett runter.
»Wo willst
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