Der Teufel von Mailand
wußte Casutt mehr, als er sagte. Aber sie glaubte nicht, daß er es war, der hinter der Sache steckte. Ein alter, ungelenker Mann, der zuviel trank, hätte nicht die Nerven, abzuwarten, bis sie das Hotel verließ, sich durch die Lobby zu stehlen, die Treppen zu ihrem Zimmer hinaufzusteigen, es aufzuschließen, Pavarotti aus seinem Käfig zu holen, die Treppen runter und wieder durch die Lobby und durch den Wellness-Bereich in den Ruheraum zu schleichen, den Vogel ins Aquarium zu tauchen und ein drittes Mal durch die Lobby und hinauszugehen.
Aber beim Säureanschlag und beim Unterwasserfeuer könnte er etwas gesehen haben, was er verschwieg. Auch die Stimme, die ihn angeblich zu einem Einsatz als Tagportier aufgefordert hatte, könnte er erkannt haben.
Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, daß er den Täter kennen mußte. Und desto wahrscheinlicher wurde es, daß sie seine Warnung vor Reto Bazzell, dem Milchsammler, ernst nehmen mußte.
Sie schob ein volles Blech in den Warmhalteschrank und begann ein neues zu füllen. Von hoch oben ließ sie einen dünnen Fangofaden auf die saubere Fläche fließen und malte schwungvolle Ornamente auf das Blech, wie ein Dreisternekoch auf den Rand eines Desserttellers.
Ohne anzuklopfen, betrat Frau Felix den Raum, schloß die Tür sofort wieder hinter sich und stellte sich mit dem Rücken davor. Ihr Mund war ein Strich, und zwei tiefe senkrechte Falten kreuzten an der Nasenwurzel den Rahmen ihrer geschwungenen Brille.
Sonia sah sie fragend an.
Frau Felix bekreuzigte sich. Dann fing sie an zu sprechen, mit hoher, seltsam verstellter Stimme.
»Jetzt will ich bitten den mächtigen Christus,
der jedes Menschen Rettung ist,
der den Teufel in Fesseln schlug.
In seinem Namen will ich gehen.
Jetzt will ich den Abtrünnigen
erschlagen mit dem Knüppel.«
Sie bekreuzigte sich wieder, zog ein kleines Fläschchen aus braunem Glas aus der Tasche ihrer weißen Schürze, drehte den Schraubverschluß auf und bespritzte Sonia mit dessen Inhalt.
Sonia stieß einen kleinen überraschten Schrei aus und schützte ihr Gesicht.
Frau Felix steckte das Fläschchen wieder in die Schürzentasche und verließ den Raum.
Sonia folgte ihr. Als sie auf den Korridor trat, sah sie gerade noch, wie sie in einem der Behandlungszimmer verschwand. Vor der Tür hörte sie, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Sonia klopfte.
Keine Antwort.
Sonia klopfte wieder. »Frau Felix?«
Es blieb still im Behandlungszimmer.
»Frau Felix!« rief Sonia laut und wütend.
Die Nebentür ging auf, Manuel streckte den Kopf heraus. »Was ist los?«
»Sie ist übergeschnappt. Weißt du, was die gemacht hat?«
»Erzähl es mir nachher. Ich habe hier noch zwanzig Minuten.« Dann formte er mit den Lippen »Bob« und zwinkerte ihr zu.
Die Flüssigkeit war geruch- und farblos. Wasser, wahrscheinlich. Weihwasser, womöglich. Sonia saß im Personalraum und wartete auf Manuel. Sie rauchte eine seiner Zigaretten. Ihre eigenen hatte sie heute früh weggeworfen. Sie wußte nicht, was sie mehr verwirrte: Frau Felix’ Auftritt oder die Tatsache, daß Bob sich von Manuel massieren ließ. Weshalb war er nicht zu ihr gekommen?
Die Tür ging auf. Aber es war nicht Manuel. Es war Barbara Peters. Sie sah zum ersten Mal, seit Sonia sie kannte, etwas ungepflegt aus und trug die gleichen Sachen wie vor zwei Stunden im Auto. Ihre Haare machten den Eindruck, als seien sie nicht absichtlich ungekämmt. »Ist Bango hier unten?«
Die Frage war seltsam. Die Wellness-Anlage war für Hunde tabu. Auch für die der Chefin. »Nein. Wird er vermißt?«
»Er war nicht hier, als ich ankam. Und er ist nirgends zu finden.«
»Wann wurde er zuletzt gesehen?«
»Gestern abend. Michelle hat ihn gefüttert.«
»Das Haus ist groß. Vielleicht ist er irgendwo eingesperrt.«
»Ich habe überall nachgesehen. Das hier war meine letzte Hoffnung.«
»Bestimmt ist er nur ein wenig spazierengegangen.«
Barbara Peters schüttelte den Kopf. »Bango geht nie allein spazieren.«
8
»Weshalb zu Manuel?«
»Lumbago.«
»Weshalb nicht zu mir?«
»Bei dir hol ich mir die Krankheit, nicht die Therapie.«
Sonia lachte. Sie lag in ihrem schmalen Bett, den Kopf auf Bobs Schulter, über ihr die Schattenspiele.
»Glaubst du, daß ein Ton gelb sein kann, mit rosa Schuppen?« fragte sie.
»Wenn Töne Farben hätten, warum nicht?«
»Töne haben Farben. Manchmal kann ich sie sehen.«
»Franz Liszt hat das auch geglaubt.«
»Ich bilde es mir
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