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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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weiße Schleuse eine andere, von einer fremden grellen Sonne ausgeleuchtete Wirklichkeit betreten.
    Die Zeit war stehengeblieben. Nichts rührte sich.
    Die erste Bewegung, die Sonia wahrnahm, war der frostige Wind. Dann sah sie die Wolke in seinem Schlepptau. Sie glitt herbei und verbarg die Welt wieder, in die Sonia für einen Moment hatte blicken dürfen.
    Als Sonia klein war, hatte ihr Vater für sie gezaubert: Er hielt die flache Hand auf die Stirn und lächelte. Dann strich sie langsam nach unten. Das glückliche Gesicht verschwand, und oberhalb des angelegten Daumens kam ein trauriges zum Vorschein. Er ließ die Hand wieder nach oben gleiten, und das Lächeln kam wieder zum Vorschein.
    Genauso magisch hatte sich vorhin die Welt verwandelt und zurückverwandelt. Jetzt, auf dem Rückweg, sah sie den Wald und das Dorf wieder klar und scharf umrissen, während hinter ihr von neuem graue Wolken von den Hängen quollen.
    Bergab durch den Wald über den sanft geneigten, nadelgepolsterten Wanderweg, zwischen Gehen und Schweben. Weiter auf dem knirschenden Kies der ausgewaschenen Naturstraße. Vorbei an Luzi Bazzells Trauerhaus. Durch Casutts Gäßchen mit den verwaschenen Sgraffiti und den abblätternden Fassaden, an die sich mit Plastikfolie geschützte Holzstöße lehnten.
    Vor dem Kolonialwarenladen räumte Frau Bruhin die Werbetafel und den Zeitungsständer herein. Als sie Sonia sah, deutete sie zum Himmel: »Da kommt etwas!«
    Sonia hob den Blick. Die gleichförmige Nebeldecke hatte sich zu grauen Wolken geballt, deren Ränder sich gelblich und bräunlich zu verfärben begannen.
    Sonia ging weiter, die Dorfstraße hinauf, vorbei am Steinbock, vorbei am Geranienbrunnen, direkt auf die Kirche zu. Sie stieß die schwere Tür auf und atmete die Mischung aus Arvenholz, Kerzenruß und Weihrauch ein. Nur wenig Licht des immer dämmriger werdenden Nachmittags drang durch die Glasmalereien.
    Vom Seitenaltar mit der Muttergottes leuchtete Kerzenschein. Sie ging darauf zu.
    Eine alte, schwarzgekleidete Frau kniete davor, tief in ihr Gebet versunken. Sonia wäre lieber allein gewesen. Sie bekreuzigte sich vor dem Marienbild und klaubte ihr Sportportemonnaie aus der Hosentasche. Es besaß einen Klettverschluß und verursachte beim Öffnen ein reißendes Geräusch.
    Die Beterin wandte den Kopf und sah zu ihr auf. Sonia erkannte die Frau, bei der Casutt wohnte. Sie nickten sich wortlos zu.
    Sonia warf eine Münze in den Opferstock und steckte drei Kerzen an. Alle drei für sich selbst.
    Die alte Frau schloß ihr Gebet mit einem hörbaren »Amen«, schlug das Kreuz und rappelte sich hoch. Sie nickte Sonia zu und entfernte sich. Kurz darauf flackerten die Kerzen auf dem Altar. Sonia hörte das Ächzen der Seitentür und das Geräusch, als sie ins Schloß fiel.
    Die Marienstatue trug ein weißes, bodenlanges Kleid, einen weißen Schleier, der in eine Stola überging, und eine himmelblaue Schärpe um die Taille. An ihrem rechten Unterarm hing ein goldener Rosenkranz bis zur Fußspitze. Sie hatte die Handflächen aneinandergelegt, den Blick gegen den Himmel gerichtet und betete für uns arme Sünder.
    Sonia hörte das Geräusch von leisen Schritten. Sie blickte sich um und sah eine Gestalt in der Sakristei verschwinden.
    Wieder flackerten die Kerzen, und wieder ächzte die Seitentür. »Sandro!« rief eine gedämpfte Frauenstimme.
    Es war die alte Frau von vorhin. »Sandro!«
    Sie kam mit raschen kurzen Schritten auf Sonia zu. »Haben Sie den Sigrist gesehen?« Sie war bleich, und ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihr Atem ging stoßweise, als hätte sie eine Anstrengung hinter sich.
    »Vielleicht in der Sakristei«, antwortete Sonia. »Ist etwas passiert?«
    Die Frau nickte. »Das Kreuz.« Sie ging zur Sakristei und kam gleich darauf mit dem Sigrist wieder heraus. Die beiden gingen zur Seitentür. Sonia folgte ihnen.
    Der Himmel war jetzt fast schwarz. Ein eisiger Wind wirbelte große Schneeflocken durchs Dorf. Der Sigrist und die Alte waren nicht zu sehen, aber das kleine schmiedeeiserne Tor zum Friedhof stand offen.
    Die angewelkten Kränze und Bouquets von Reto Bazzells Grab waren schon mit einem dünnen Schneefilm überzogen. Die alte Frau stand vor dem Grab, der Sigrist machte sich an dem schlichten Kreuz zu schaffen.
    Es steckte verkehrt herum in der Erde.
    Der Sigrist zog es heraus, legte es auf den Boden und ging zu einem kleinen Geräteschuppen am anderen Ende des Friedhofs. Sonia und die alte Frau standen schweigend am

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