Der Teufel von Mailand
davon?«
Manuel lachte. »Ich gönne ihn ihr nicht.«
Sonia nahm das Kleid vom Bügel. »Dir zuliebe.«
Es war ein leichter Sieg. Als sie herunterkamen, war Maman an Barbaras Tisch im Speisesaal beim Essen, manchmal klang ihr künstliches Lachen herüber. Bob war in seine Dinner Music vertieft. Sie, Manuel und Dr. Stahel waren die einzigen Gäste der Bar. Die beiden Frauen saßen immer noch im Speisesaal.
Bob setzte sich in den Musikpausen zu ihnen an den Tisch und war so wie immer. Und als er sein letztes Stück spielte – Cole Porters »In the Still of the Night« –, hatten sich die beiden Damen längst zurückgezogen, ohne noch einmal in die Bar geschaut zu haben.
Zuerst entschuldigte sich Dr. Stahel, dann Manuel, dann zeigte Vanni erste Anzeichen von Ungeduld, und schließlich gingen Sonia und Bob auf ihr Zimmer, wie ein eingespieltes Artistenpärchen auf Tournee.
»Bob?«
»Hmm?«
»Woher hast du die Kratzer?«
»Welche Kratzer?«
»Auf dem Rücken.«
»Die müssen von dir sein.«
»Ach, Bob. Masseurinnen tragen ihre Nägel kurz.«
Der Wald unter Alp Petsch war nachlässig in Watte verpackt. Das Grau des Himmels wurde im Westen von einem blendenden Weiß durchbrochen, das die anmutigen Lärchenäste naß glänzen ließ. Der schmale Pfad war mit den braunen Nadeln des letzten Herbstes dick gepolstert. Dazwischen lagen die kleinen Tannenzapfen verstreut, mit denen sie als Kind Tabakpfeifchen-Rauchen gespielt hatte.
Sie hatte sich bei Manuel abgemeldet für den Tag. Er hatte ihren einzigen Termin übernommen und gefragt: »Und falls Miss Gamander fragt?«
»Dann kann sie mich mal.«
»Alles klar.«
Nichts denken, nichts denken, wiederholte Sonia im Takt ihrer schnellen Schritte. Unter den Kleidern schwitzte sie, aber Hände, Ohren und Nasenspitze waren eiskalt. Die Temperatur war in der letzten Stunde empfindlich gefallen.
Nichts denken, nichts denken.
Links am Wegrand stand die Bank, von der aus sie damals gesehen hatte, wie die Welt sich für einen Augenblick verwandelte. Wie lange war das her?
Nichts denken, nichts denken.
Der Weg stieg steil an durch den sich ausdünnenden Wald, der nach und nach den Blick auf die baumlosen Alpweiden freigab.
Außer Atem erreichte sie die Waldgrenze. Über ihr stiegen die sattgrünen Hänge an, bis sie unter duftigen Nebel-Volants verschwanden. Zwei, drei weiße Alphütten klebten am Hang, wie von einem Kind in eine Modelleisenbahnlandschaft gepflanzt. Eine senkrechte kiesige Schramme, durch deren Mitte ein schneeweißer Bach herabschoß, störte die Harmonie des Bildes.
Das Gras stand hoch, nur eine der Weiden war von einem kurzentschlossenen Bauern an einem der seltenen trockenen Tage der letzten Wochen gemäht worden. Das Heu lag in glänzende weiße Kunststoffballen gepreßt am Wegrand.
Sonia kletterte über den Zaun und begann den Aufstieg quer über die gemähte Wiese.
Hier geht die winzige Sonia Frey einen steilen Berg hinauf. Eine unter Millionen, die in diesem Augenblick einen steilen Berg hinaufgehen, eine unter Hunderttausenden, die in diesem Augenblick mit ein bißchen Angst einen steilen Berg hinaufgehen, eine unter Zehntausenden, die in diesem Augenblick mit ein bißchen Angst und ein bißchen Liebeskummer einen steilen Berg hinaufgehen.
Nichts denken, nichts denken.
Vorbei an einer kuhfladengepflasterten Mulde mit einem hölzernen, mit Blech ausgeschlagenen Brunnen. Vorbei an einer schwarzen Holzhütte mit einem Sonnenkollektor. Vorbei an einem schlecht vernarbten kleinen Erdrutsch.
Sie erreichte den Nebelsaum. Die Umrisse lösten sich auf. Sie kletterte weiter, bis die Weiden unter ihr ganz verschwunden waren und sie nichts umgab als dieser stille weiße Nebel.
Erst dann gönnte sie sich eine Pause. Sie setzte sich auf einen Stein, der aus der makellosen Wiese wuchs, und wartete, bis sich der Aufruhr in ihrem Körper legte.
Nichts denken.
Ihr Atem beruhigte sich. Der Puls wurde langsamer.
Um sie herum und über ihr war nichts. Und in dieses kühle, undurchsichtige Nichts hüllte sie sich, wie in ein leichtes Tuch.
Von weit her drang ein Motorengeräusch an ihre Ohren und verwandelte sich in eine leuchtorangene Linie, die im weißen Nebeldunst oszillierte.
Die Luft roch rund und weich.
Plötzlich, als blähte der Wind einen Tüllvorhang, hob sich das Weiß, in das sie starrte. Über ihr tat sich ein eisblauer Himmel auf. Unter ihr war Val Grisch wie für immer in einem Nebelmeer versunken.
Es war, als hätte sie durch eine
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