Der Teufel von Mailand
Speichelfaden.
Sonia überwand sich. Sie berührte seine Schulter und stieß ihn an. »Herr Casutt? Alles in Ordnung?«
Er rührte sich nicht.
Sie packte seine Schulter etwas fester und schüttelte ihn. »Hallooo, aufwachen!«
Casutt schlug die Augen auf, rotunterlaufen und ausdruckslos – und schloß sie wieder.
Sie war hergekommen, um ihn zur Rede zu stellen. Sie wollte von ihm wissen, ob er in Reto Bazzells Plan eingeweiht gewesen war und ob er wußte, wer ihn zu Ende führte.
Sie sah aus dem Fenster. Auf dem Hof unten stand ein Mann und blickte herauf. Als er Sonia sah, fuhr er fort, Scheite von einem Holzstoß in eine Schubkarre zu laden. Sie schloß das Fenster.
Sonia verließ die Wohnung und machte beide Türen hinter sich zu. Ihr Verdacht, es könnte Casutt selbst gewesen sein, der das Kreuz auf den Kopf gedreht hatte, war wenigstens zerstreut.
Wie zerfetzte Segel großer Schiffe trieben Wolken an der bewaldeten Flanke der andern Talseite vorbei. Es war erst später Nachmittag, aber in den Stuben und Küchen der alten Häuser brannte schon Licht. Kaum hatte Sonia die Straße betreten, prasselte der Regen nieder, als hätte er ihr aufgelauert.
Vor der Haustür eines Mehrfamilienhauses im Engadinerstil wurde sie von einer Frau abgefangen. Es war Ladina, die Mutter des behinderten Jungen. Sonia ließ sich von ihr nötigen, das Nachlassen des Regens in ihrer Wohnung abzuwarten.
In einer mit hellem Arvenholz getäfelten Stube mußte sie sich auf eine Eckbank setzen. Auf dem Tisch lag eine Strickarbeit, die Ladina jetzt wegräumte. In einem fahrbaren Kinderbett schlief der Junge. »Normalerweise müßte ich um diese Zeit mit ihm arbeiten. Dank dir darf er jetzt schlafen.«
Ladina brachte Kaffee, holte eine Schachtel Biskuits aus einem geschnitzten Einbauschränkchen und setzte sich zu Sonia. »Er wird nie richtig gehen können, wenn ich diese Therapie aufgebe, hat sie gesagt.«
Sonia winkte ab. »Sie ist eine alte Hexe.«
Ladina sah sie erschrocken an. »Glaubst du an Hexen?«
»Natürlich nicht.«
»Ich schon.« Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Vor jeder Behandlung hat sie mit uns für den Erfolg gebetet. Aber keine Gebete, die ich kenne. Und während der Behandlung hat sie manchmal etwas gemurmelt. Wie Beschwörungen. Christoph weinte nicht nur wegen der Behandlung. Er weinte auch, weil er Angst vor ihr hatte.«
»Ich glaube, sie ist in irgendeiner seltsamen Sekte.«
»Das sind Hexen auch.«
Der Kaffee war zu heiß. Sonia stellte die Tasse wieder ab. »Es geschehen seltsame Dinge im Hotel.«
»Ich weiß, so was spricht sich schnell herum in einem so kleinen Dorf.«
»Wir dachten, Reto Bazzell stecke dahinter. Aber es geht weiter.«
Ladina sagte nichts. Ihr Schweigen kam Sonia bedeutungsvoll vor.
»Kennst du die Sage vom Teufel von Mailand?«
»Wie geht die?«
»Ein junges Mädchen verkauft ihre Seele dem Teufel, aber der Preis wird erst fällig, wenn sieben Ereignisse eintreffen.«
»Was für Ereignisse?«
»Wie sie in letzter Zeit geschehen sind. Glut brennt im Wasser, der Vogel wird zum Fisch, das Tier wird zum Menschen, das Kreuz zieht nach Süden.«
»Nein, kenne ich nicht.«
»Heute hing das Kreuz im Lesezimmer verkehrt herum. Frau Felix hat es entdeckt und war völlig verstört. Wenn sie eine Hexe wäre, müßte es sie ja freuen.«
»Vielleicht hat sie euch etwas vorgemacht und das Kreuz selbst auf den Kopf gestellt.« Ladina tauchte ein Biskuit in den Kaffee und führte es zum Mund. »Es gibt viele, die etwas gegen die Peters haben.« Das aufgeweichte Stück des Biskuits brach ab und fiel auf das bestickte Tischtuch. Ladina ging wortlos in die Küche, kam mit einem Lappen, einer Rolle Haushaltspapier und einem Becken mit Seifenwasser zurück und begann das Tischtuch zu reinigen, als wäre Sonia nicht da.
»Wer noch?« fragte Sonia schließlich.
Ladina hob das Tischtuch und schob mehrere Lagen Haushaltspapier unter die nasse Stelle. »Ich will niemanden verdächtigen.«
»Wer außer den Bazzells hatte noch Interesse am alten Gamander?«
Ladina trug die Reinigungsutensilien in die Küche. Als sie zurückkam, sagte sie: »Der würde nie so etwas tun.«
»Wer?«
»Peder. Peder Bezzola, der Koch vom Steinbock. Der ist anständig.«
»Was hatte er für ein Interesse am Gamander?«
»Es gehörte ihm.«
Sonia stellte die Tasse ab, ohne getrunken zu haben. »Peder Bezzola ist der frühere Besitzer?«
»Es gehörte seinen Eltern. Als die in Pension gingen, hat es
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