Der Teufel Von Muenster
Branagorn. »Cherenwen ist Euer wirklicher Name.«
Anna hatte spätestens jetzt das Gefühl, das dumpfe Gefühl, diese Sitzung könnte ihr völlig aus den Händen gleiten.
Ein Fall von Übertragung, dachte sie. Eindeutig wie im Lehrbuch. Aber das war alles eingebettet in dieses Geflecht aus Wahnvorstellungen und einer Phantasiewelt, in die sich Frank Schmitt vollkommen zurückgezogen zu haben schien. Ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, wo ich ihn einfach mal mit den Fakten konfrontieren sollte – so wie sie in meinen Unterlagen stehen, wie sie dokumentiert sind und wie ich sie inzwischen selbst nachgeforscht habe?
»Ich muss Euch einiges erklären«, sagte Branagorn. »Euren holden Zügen ist die Verwirrung unschwer anzusehen. Und im Übrigen haben wir Elben die Fähigkeit, uns mit verwandten Seelen zu verbinden, sodass wir empfinden können, was sie empfinden, gleichgültig, wie weit man auch voneinander entfernt sein mag. Selbst wenn es der Abgrund zwischen den Welten ist, der einen von dieser Seele trennt.«
»Also ich schlage vor, Sie erklären mir einfach, was Sie erklären möchten. Wir nennen das auch eine freie Assoziation. Auf diese Weise erhalten wir in der Regel Material, mit dem wir arbeiten können.«
»Eine seltsame Zeit, in der man Gedanken, die doch aus dem Element des Geistes und nicht der Materie kommen, als Material bezeichnet … Aber nicht untypisch, auch wenn es mich zugegebenermaßen ein wenig amüsiert.«
»Bleiben wir bei Cherenwen. Erklären Sie mir dieses Wort und was es für Sie bedeutet.«
»Es bedeutet alles für mich. Seht, ich habe Euch gegenüber ja mein Schicksal ausführlich geschildert. Einst lebte ich in einer anderen Welt, wo ich meinem König als Herzog von Elbara diente. Wir Elben sind sehr langlebig – fast unsterblich, gemessen an den Zeitbegriffen des Menschenvolkes. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass eine Seuche grassierte, die man den Lebensüberdruss nannte und der auch meine Geliebte erlag. Ihr Name war Cherenwen …«
»Sie nahm sich das Leben?«
»Ja. Und nachdem mein König mich aus seinen Diensten entließ, wollte ich ihrer Seele ins Land der Geister folgen, wo die Eldran existieren – die Seelen der verklärten Toten.«
Ich werde mich auf seine Gedankenwelt einlassen müssen, wenn ich überhaupt etwas erreichen will, ging es Anna durch den Kopf. Bisher war er immer der Frage ausgewichen, weshalb er auf dem Signal-Iduna-Hochhaus gestanden hatte, um sich in die Tiefe zu stürzen. Im Grunde hatte er sich noch immer kaum geöffnet, aber vielleicht war es so, dass er sich der Realität nur in jener Verkleidung stellen konnte, die seiner Phantasiewelt entstammte. Und Anna entschied, dass sie diesen Weg vielleicht einfach fürs Erste akzeptieren musste. Reden wir also in Metaphern aus der Elbenwelt und nähern uns so der Wahrheit, dachte sie. Auch das konnte einen therapeutischen Effekt haben – ähnlich wie Träume, die die Realität ja auch in verfremdeter Form widerspiegelten.
»Interessiert Euch meine Erzählung überhaupt – oder haltet Ihr sie vielmehr für eine Ausgeburt einer im besten Fall ausufernden und im schlimmsten Fall krankhaften Phantasie?«, unterbrach Branagorn den Gedankengang der Psychologin.
»Fahren Sie einfach fort«, forderte Anna ihn auf. »Es interessiert mich sehr, was Sie zu sagen haben. Glauben Sie mir.«
»Wie gesagt, ich folgte nach vielen Zeitaltern meiner geliebten Cherenwen nach Estorien, ins Land der Geister.«
»Ist das so etwas wie ein Totenreich?«
»Nein. Es ist ein Land, in dem die Lebenden den Geistern der Toten begegnen können. Deswegen ritt ich dorthin … Ich hoffte, Cherenwens Seele zu begegnen.«
»Haben Sie Ihre … Cherenwen … gefunden?«
»Ja, das habe ich. Und zuerst war ich glücklich dort. Doch mit der Zeit wurde mir quälend bewusst, dass jene Cherenwen, die mir dort begegnete, nicht mehr als ein Gespenst der Vergangenheit war. Eine geisterhafte Erscheinung, nicht viel realer als ein Trugbild. Ich war ein Lebender und sie eine verklärte Totenseele. Auch wenn ich sie sehen und zu ihr sprechen konnte, blieben wir beide doch letztlich in unterschiedlichen Existenzebenen. Mir wurde klar, dass sich meine Hoffnungen, dieser geliebten Seele nahe zu sein, so nicht erfüllen konnten. Ich weiß, dass es in dieser Welt eigenartig klingen muss, was ich Euch nun erzähle. Und ich weiß auch, dass unter Euresgleichen die Zweifel an der Wirksamkeit der Magie weit verbreitet und das Wissen um sie
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