Der Teufel Von Muenster
fast vollständig verschüttet ist.«
»Ich höre Ihnen einfach zu, Branagorn. Und ich verspreche Ihnen, dass ich versuchen werde, Sie zu verstehen, so gut mir das trotz unserer zugegebenermaßen in manchen Punkten etwas unterschiedlichen Sichtweise möglich ist.«
Ein mattes Lächeln glitt über Branagorns Gesicht. Er nickte leicht und strich sich das Haar etwas zurück. Für einen Moment blitzte dabei sein deformiertes Ohr hervor. Er hatte angegeben, ein spitzes Elbenohr sei typisch für sein Volk. Anna nahm eher an, dass es das Ergebnis einer tätlichen Auseinandersetzung war. Vielleicht sogar ein Akt der Selbstverstümmlung. In ihren Unterlagen konnte sie dazu jedoch nichts finden, und es war ihr bisher auch nicht gelungen, in diesem Punkt Klarheit zu erlangen.
»Ich versuchte, mit Hilfe von Magie in die Sphäre der Eldran zu gelangen, sodass ich mit meiner geliebten Cherenwen in ein und derselben Existenzebene hätte sein können«, fuhr Branagorn fort. »Aber dies misslang, und ich geriet stattdessen in eine furchtbare Welt voller Drachen, die ich hernach gesehen nur als eine Hölle betrachten kann. Von dort gelangte ich dann – ebenfalls durch Magie – in diese Welt. Das ist viele Zeitalter her. Ich lebte als Unsterblicher unter den kurzlebigen Bewohnern dieser Erde, trug viele Namen und wurde Zeuge Eurer Geschichte. Als Branagorn von Corvey, auch bekannt als Fra Branaguorno d’Elbara, war ich der Berater von Kaiser Otto III. Und später war ich als Don Branagórn Duque de Elbara y Asturias der Gesandte des Königs von Aragon in Konstantinopel, kurz bevor es an die Türken fiel. Als Branagorn Alvarsson lebte ich eine Weile auf Island. Ich nannte mich auch Branagh Orn, verdingte mich als ein walisischer Bogenschütze unter dem Namen Bran ab-Gorn oder trat unter dem Namen Branagornus als Heiler auf. In letzterer Funktion kann ich durchaus sagen, dass ich es zu einiger Berühmtheit habe bringen können, denn die Heilkunst der Elben ist der Euren hier üblichen noch heute weit überlegen.« Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Wenn ich zu Euch in dieses Haus komme, muss ich oft daran denken, denn die Straße, an der dieses Gebäude liegt, wird von einer anderen Straße gekreuzt, die sich Herwartstraße nennt und nach einem gewissen Herwarth von Bittenfeld benannt wurde, geboren am 4. September 1794. Ich weiß dieses Datum so genau, weil es bei der Anwendung eines Heilzaubers von immenser Bedeutung war, unter welchen kosmischen Zeichen seine Geburt stattgefunden hatte, und es zunächst Unsicherheiten darüber gab, ob er nun wirklich am 4. September oder vielleicht einen Tag früher geboren worden war. Jedenfalls bat mich Feldmarschall von Bittenfeld im Jahr 1854 darum, angesichts einer sehr ernsten Erkrankung einen elbischen Heilzauber durchzuführen. Um ehrlich zu sein, war das wohl so etwas wie ein verzweifelter Griff nach dem letzten Strohhalm, wenn Ihr versteht, was ich meine. Aber Herwarth von Bittenfeld starb erst 1884 und wurde damit für seine Zeit und die Verhältnisse Eures Volkes sehr alt. Also war ich erfolgreich. Bei den Verhandlungen, die ich seinerzeit zwischen den Wiedertäufern und dem Bischof von Münster zu vermitteln versuchte, als dieser mit seinen Truppen die Stadt belagerte, habe ich allerdings kläglich versagt, wie die Schädelkäfige an der Lambertikirche mir jedes Mal vor Augen führen, wenn ich dort vorbeikomme. Aus diesem Grund meide ich die Gegend auch immer noch.«
Wie traurig musste es um das Selbstwertgefühl eines Menschen bestellt sein, der sich großartige Taten in dieser und in anderen Welten als Elbenkrieger, Heiler, Diplomat und Vertrauter von großen historischen Persönlichkeiten ausdenken musste, um seiner Psyche Stabilität zu geben, ging es Anna durch den Kopf. Nichts anderes als die Kompensation einer zweifellos bedrückenden Realität war das.
»Eigentlich wollten Sie mir von Cherenwen erzählen«, sagte Anna.
»Verzeiht mir, wenn ich abschweife. Aber ich vergesse immer wieder, dass mir ganze Zeitalter zur Verfügung stehen, während meine kurzlebige Umgebung zur Eile verdammt ist. Ja, ich wollte über meine geliebte Cherenwen sprechen. Von dem Augenblick an, da mich meine eigene Magie aus meiner Welt herauskatapultierte, tat ich nichts anderes, als meine Suche nach ihr fortzusetzen. Manchmal geschieht es, dass Seelen, die in einer Welt des Polyversums nichts weiter als ein Gespenst sind, in einer anderen real erscheinen. Die Grenzen zwischen den Welten
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