Der Teufel von New York
trotzdem gern getan. Jetzt hör auf zu pilpeln.«
Mein Blick glitt über die Hand meines Bruders, die schlaff über seinem schweren Gehstock hing, und ich bemerkte ein feines Zittern seiner Fingerspitzen. Ich blickte auf und sah mir seine Pupillen an.
»Du bist ja nüchtern«, bemerkte ich. Dabei hatte ich erwartet, er würde bei unserer nächsten Begegnung mit Morphium vollgepumpt sein, weil er sich so nach seinen Bränden sehnte. »Wie kommt’s, frag ich mich?«
»Das liegt daran, dass ich jetzt ein Polizei-Captain bin, eine Vertrauensperson, und dass wir heute Nachmittag ein Treffen der Demokraten haben. Und du, warum möchtest du unbedingt noch ein weiteres gekilltes Kindchen sehen, frag ich mich. Ist das jetzt dein neuer Zeitvertreib – glendische Beeker?« Womit er kleine Kinderleichen meinte.
»Lass deine geschmacklosen Kommentare. Erzähl mir lieber, was geschehen ist.«
Valetine erklärte, eine Dirne namens Jenny habe im Morgengrauen ihre üblichen geistlosen Runden auf der Suche nach einem Freier gedreht, als sie vor einer Speisewirtschaft an einem Abfallkübel vorbeigekommen sei. Der Kübel war allem Anschein nach eine vielversprechende Nahrungsquelle, und da Jenny ihre letzte Münze für den morgendlichen Becher Whiskey ausgegeben hatte, nahm sie den Deckel ab, denn sie hoffte, sie werde, wie schon so oft, ein paar Austernpasteten-Ränder oder Entenknochen finden. Wenn sie ganz viel Glück hatte, vielleicht sogar Reste von gebratenem Kalbfleisch. Beim Anblick dessen, was sie stattdessen dort vorfand, schrie sie sich die Seele aus dem Leib und fand schließlich einen Streifenpolizisten, der die Leiche sogleich zur Polizeistation brachte. Und was damit geschehen wäre, bevor die Polizei gegründet wurde – kam mir plötzlich die Erkenntnis –, das konnte niemand sagen. Ich wollte hoffen, ein Wachmann würde sie genau untersucht und dann vielleicht sogar seinen Vorgesetzten gerufen haben, bevor er sie auf irgendeinem Armenfriedhof hätte begraben lassen, aber wer wusste das schon?
»Gottseidank hat er’s aufs Polizeirevier bringen lassen«, setzte Val hinzu, als wir am Randstein anhielten und er dem Kutscher einen Vierteldollar zuwarf. »Das geht wirklich nicht an, gerade ist die Polizei frisch gegründet, und da werden gebeekerte Schratzen mit den Austerschalen auf den Müll gekippt. Hier lang, er liegt im Keller. In ein paar Minuten soll ein Doktor kommen.«
Die Straße war ruhig, hier und da gab es grüne Büsche, und das Polizeigebäude war ein gewöhnliches Backsteinhaus, mit einem offiziell wirkenden Empfangstisch am Eingang. Der schwarzhaarige Ire, der dahinter stand, hatte ein so eisigstarres Gesicht, dass es mir kalt den Nacken hinunterkroch. Er wirkte verschlossen, wie verwundet. Als wir durch den kleinen Raum gingen, war ich für einen Augenblick richtig froh, dass mein Bruder bei mir war. Und dann sagte ich mir mit seinen eigenen Worten, ich solle nicht so ein jämmerlicher Waschlappen sein.
Wir stiegen die Hintertreppe hinunter, eine Laterne brauchten wir nicht, denn der Raum unten war beleuchtet. Die Kammer, die wir betraten, war mehr eine Höhle als ein Keller. Für die hungrigen Männer der Nachtschicht hing ein Sack mit Äpfeln in der Ecke, drei große Öllampen warfen scharfe, schwarze Schatten, wie eine Drohung. Hier unten war es etwa zehn Grad kühler als oben. Es roch nach Bäumen und Mutterboden, der angenehme Erdgeruch, den ich noch von damals kannte, als ich ein Kind war und für meine Mama die Kartoffeln holen ging. Aber es war noch ein anderer Geruch beigemischt – ekelhaft süßlich und krude. In der Mitte des Raums lag etwas unter einer aschefarbenen Decke.
»Na los«, sagte Val herausfordernd. »Du wolltest dir ja unbedingtansehen, mit was wir es hier zu tun haben. Tu dir keinen Zwang an, Timmy!«
Wenn es ein Wort auf dieser Welt gibt, das bei mir als reine Provokation wirkt, dann ist es das Wort Timmy . Also ging ich hin und schlug die Decke zurück.
Und was ich sah, konnte ich zunächst einfach nicht ertragen. Val hatte recht, ich war nicht Manns genug für das hier, und mich ergriff wieder das gleiche verstörende Gefühl, in die Tiefe zu fallen, wie gestern, als ich Aidan Raffertys kleine, geballte Faust sah. Doch als ich dann auf die Leiche hinabstarrte, hörte ich ein leises, metallisches Klicken in meinem Kopf , wie wenn ein Fenster geschlossen wird. Ich musste Bird unbedingt noch einmal eingehend befragen, sie dazu bringen, mir dieses Sie werden ihn
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