Der Teufel von New York
für alle Zeiten geschädigt«, gestand er. Und so sah er auch aus, nach meiner Ansicht. »Ein rheumatisches Fieber in zartem Alter, das zu vielen Komplikationen geführt hatte. Hätte es damals in diesem Land ein Hôpital des enfants malades oder irgendeine ähnliche Einrichtung für Kinder gegeben, würde ich jetzt nicht auf jeden Schreck so empfindlich reagieren. Mein Puls rast geradezu. Nun gut. Ich nehme an, Sie sind Captain Wilde?«
»Höchstpersönlich«, bestätigte mein Bruder.
»Sie sind sich der Tatsache bewusst, dass ich kein Coroner bin. Ja? Und trotzdem wurde ich mit höchster Dringlichkeit von dieser ... dieser sogenannten Polizeieinheit gerufen. Sie werden mir sagen, warum, und zwar auf der Stelle.«
»Wissen Sie«, sagte Valentine mit einem rasiermesserscharfenLächeln, während er sich mit der Hand über den lohfarbenen Haaransatz fuhr, »Sie schaun sich jetzt den Kibes von dem Schratz mal ganz genau an, und dann erzählen Sie dem Captain vom Achten Bezirk, ob Sie jemals ein Werk der Nächstenliebe an ihm vollbracht haben – oder aber ich muss Sie dobesen und ein paar Tage in den Tombs schmoren lassen. Versuchen Sie bloß nicht, mich zu bekaspern, und schönen Dank auch für Ihre Hilfsbereitschaft.«
Dr. Palsgrave sah aus, als würde er gleich den nächsten Herzanfall erleiden. Dann verlagerte er vorsichtig sein Gewicht und versuchte, sich ... nun ja, größer zu machen, als ich es war, denn wir waren beide genau gleich groß, wenn auch nicht annähernd so groß wie Val. Das klappte nicht sonderlich gut. Unterdessen spürte ich einen seltenen Anflug von Familienstolz, den ich sofort wie eine Küchenschabe in der Vorratskammer zerquetschte. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass Vals Vorstoß überaus direkt war, aber dass er Wirkung zeigte, war ebenso wenig zu leugnen.
»Das ist ungeheuerlich . Ich soll versuchen, ein Kind zu identifizieren, das ich vielleicht nie gesehen habe, und ich soll es unter all den vielen Tausenden von Kindern erkennen, die ich sehr wohl schon gesehen habe?«
»Ganz genau«, stimmte ihm Val in aller Seelenruhe zu und ließ einen Daumen über seine Westenknöpfe gleiten. »Und außerdem sagen Sie uns alles, was Ihnen sonst noch auffällt, einfach nur, um den Trägern des Kupfersterns einen Gefallen zu tun.«
Hier lag imaginäres Geld in der Luft, es roch ganz schön metallisch. Das war der Moment, in dem Valentine – schließlich kannte ich meinen Bruder – normalerweise eine Bestechungssumme nennen würde. Es sei denn, er hatte beschlossen, das Ganze sei der Mühe nicht wert. Val sagte nichts.
Und damit lag er genau richtig.
Mit einem Achselzucken trat Dr. Palsgrave näher an die Leiche heran, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Als er die leblose Hülle in Augenschein nahm, wurde sein Gesicht plötzlichweicher, als bekümmere ihn der Anblick des Todes immer noch, trotz seiner Ausbildung in der Anatomie.
»Er ist zwischen elf und dreizehn Jahre alt«, berichtete er in abgehacktem Ton. »Ich kann nicht eindeutig erkennen, was sein Ableben verursacht hat, aber es waren nicht diese ... diese beiden Wunden. Sie wurden post mortem zugefügt. Vielleicht hat ein Ausländer, der heidnischen Zauberkünsten anhängt, versucht, seine Organe zu stehlen, und wurde dabei gestört. Vielleicht hatte der Junge etwas Wertvolles verschluckt und jemand hat versucht, es wiederzubekommen. Vielleicht brauchte jemand verzweifelt Fleisch. Was auch immer es war, der Kleine war schon tot.«
Das war alles mehr als nur ein wenig übertrieben, vor allem die Anspielung auf Kannibalismus. Ich schaute unwillkürlich zu meinem Bruder hin, weil ich einen Anker in der Wirklichkeit suchte, und stellte mit einem Schock fest, dass er die Augen seinerseits auf mich gerichtet hatte. Ich sah geschwind wieder zurück zum Doktor.
Dr. Palsgraves Blick war jetzt fast zärtlich, tief bedauernd, und er nahm eine Hand von seinem Rücken und strich dem Schratz sanft über den steifen Arm. »Arme kleine Seele. Doch ich habe nicht die geringste Ahnung, wer er ist. Zweifellos ist er ein Straßenkind, durchwühlte die Abfallkübel nach seinem täglich Brot und hat dabei tödliches Pech gehabt.«
»Ist er nicht«, sagte ich und erkannte dabei kaum meine eigene Stimme. »Seine Fingernägel sind sauber. Sie sollten genauer hinschauen.«
Vals bunt gemusterte breite Brust hob sich ein paar Zentimeter, als er loslachte. Er verzog fast schmerzlich das Gesicht, wie er es immer tat, wenn er lachte, denn
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