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Der Teufel von New York

Der Teufel von New York

Titel: Der Teufel von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lyndsay Faye
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nach rechts und wieder nach vorn. Bird ließ eine sehr kleine Hand in die meine gleiten und sah zu mir auf, als wollte sie sagen: Ich weiß doch nur ein bisschen. Nicht alles. Wenn ich alles wüsste, würde ich nicht mehr leben.
    »Sag mir«, meinte George Washington Matsell aus einem Mundwinkel heraus, »wie waren denn die Lichtverhältnisse, wenn sie normalerweise hierherkamen. War das im Morgengrauen? Oder ganz im Dunkeln?«
    »Bei Dunkelheit«, sagte Bird mit leisem Stimmchen. Aber ich hatte diesen Tonfall schon früher gehört, und da war er nicht zum Erzählen der Wahrheit gebraucht worden.
    »Nun denn«, seufzte er, »sollte es hier ein Grab geben – und für dich, kleines Mädchen, hoffe ich doch sehr, dass es eins gibt, denn sonst muss ich dich in den Westen schicken, zu einem Farmer, der seine Frau verloren hat und eine ordentliche Köchin braucht –, dann muss es zumindest ein klein wenig von der Ninth Avenue entfernt liegen. Denn die wird nachts viel befahren, von den Leuten, die in Harlem wohnen und von New York wieder nach Hause fahren.«
    »Wann hast du den Mann mit der schwarzen Kapuze zum letzten Mal gesehen, bevor Liam verschwand?«, fragte ich sie.
    Einen Moment lang schien es, als sei Bird die Kehle an der Wirbelsäule festgeklebt. »Vor einem Monat. Ich habe ihn damals nicht gesehen, aber ... da verschwand Lady.«
    Ich fragte sie nicht, wie alt Lady gewesen sei, Gott steh mir bei, denn dass sie noch nicht zu einer Lady herangewachsen war, das war mir ohnehin klar.
    »Nun denn, falls sie hier begraben liegen, müsste die Vegetation noch sehr frisch sein«, überlegte ich laut.
    Falls es sie gibt, fügte ich im Stillen hinzu.
    Die Stelle, von der meine kleine Freundin hatte reden hören, war immerhin ein so spezifischer Punkt im Raster, dass wir uns bei der Suche nicht aufteilen mussten. Wir gingen bis zum Hudson, wo die Tenth Avenue sich ihren Weg durch Brombeerbüsche und Rohrkolben bahnt, und liefen dann zurück bis dahin, wo staubig und breit die Eighth Avenue verläuft. Hier drang in der Stille ein hämmerndes Geräusch an unsere Ohren. Das entfernte Geräusch von Bügelsägen, hinter den Wipfeln der Butternussbäume kaum sichtbare Dächer.
    »Hier ist nichts«, stellte Polizeichef Matsell fest. Und er hatte recht.
    Der Blick, den ich Bird zuschoss, war weder fair noch feinfühlig. Im Wesentlichen forderte er, dass ein zehnjähriges Mädchen mich nicht zum Trottel machen solle. Sie funkelte wütend zurück, in ihrem Blick lag die Frage, ob ich denn glaubte, dass sie selbst schon hier gewesen sei.
    »Mr. Wilde«, sagte Matsell, nachdem keiner von uns ihm eine Antwort gegeben hatte, »meine Geduld schwindet.«
    »Aber es war doch alles zu Nutz und Frommen«, rief Mr. Piest eilig aus und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er wirkte ein wenig zu alert für einen alten Mann, der er doch meiner Überzeugung nach war. »Wir haben die Voruntersuchungen durchgeführt. Jetzt lautet die Frage: Wo auf diesem Grund könnte man eine sichere Grabstelle anlegen?«
    Bird hustete kurz, ein Geräusch, mit dem sie einen Schauder des Entsetzens verbergen wollte, und einen Moment lang hasste ich Piest, was er gewiss nicht verdient hatte.
    »Sie haben recht«, sagte ich laut. »Denken wir nach.«
    »Der kleine Wald da drüben«, war nach einer Weile das Ergebnis von Piests Überlegungen. »Das dichte Pappelwäldchen mit den Apfelbäumen dahinter.«
    »Warten Sie«, sagte ich. »Wenn ein Mann rundum von Pappeln umgeben ist, dann kann er nicht sehen, wenn sich jemand nähert. Wenn er sich jedoch hinter einem der Felsen verbergen würde, könnte er daran vorbei- oder darüber hinwegschauen und hätte eine klare Übersicht über den Verkehr.«
    »Gut, Mr. Wilde. Ja. Ich verstehe, was Sie meinen.«
    Ich lief ein paar Schritte in das zuckrig riechende Gras. Die anderen folgten, den Blick auf den Boden geheftet. Und dann sahen wir sie auch schon: ganz schwache Radspuren. Nicht dort, wo keine Blumen standen, sondern dort, wo sie einmal zertrampelt worden waren und sich noch nicht wieder ganz erholt hatten.
    »Sechs Fuß Abstand«, sagte ich.
    »Ein Fuhrwerk oder ein großer Karren«, setzte Piest von links hinzu.
    Matsell marschierte auf die nächste Erhebung aus Schieferfels zu, die aus dem Erdboden ragte, und wir folgten ihm. Es war ein großer, schimmernder, Tausende von Jahren alter Stein. Wir hätten uns eigentlich ganz isoliert fühlen müssen, aber je weiter man sich aus Manhattan hinausbewegt, in die

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