Der Teufel von New York
Menschen sollten in der Lage sein, sich selbst im Griff zu haben, alle Menschen, er glaubte ganz fest daran, als sei es irgendwo niedergeschrieben. Vielleicht ist es das ja auch. Ich glaube, er bewahrte diese Flasche Alkohol nur deshalb in seinem Hause auf, um zu beweisen, dass er nicht mehr als ein Glas brauchte. Als ein einzelner Tropfen vom Flaschenhals auf die Anrichte fiel, zückte er ein Taschentuch, wischte dreimal über die Stelle, faltete das Tuch wieder zusammen und steckte es in die Tasche zurück.
»Nachdem ich Sie und Ihren Bruder habe aufwachsen sehen, so nah bei uns, und wie Sie sich so tüchtig durchgeschlagen haben ... dürfen Sie davon ausgehen, dass mein beständiges Interesse nie nachlassen wird«, fuhr der Reverend fort und reichte mir ein Glas.
»Und jetzt ist Valentine ein Polizei-Captain«, setzte ich trocken hinzu.
Ich bereute es noch in der Sekunde, in der ich es sagte. Ich kann im Kopf über Valentine herziehen, so viel ich mag, aber öffentlich anschwärzen werde ich ihn nicht.
»Nun, Ihr Bruder bewegt sich immer schon wie ein Seiltänzer auf dem schmalen Grat zwischen Erfolg und Verzweiflung, aber wir wissen ja, warum.«
Ich ließ das unkommentiert. Gewiss, unser Haus ist niedergebrannt und unsere Eltern gleich mit, ja, ich hatte ihre Knochen gesehen, und das steckt mir immer noch tief in den eigenen. Aber trotzdem. Ich hatte nicht die Notwendigkeit verspürt, anschließend sämtliche Arten der Erregung öffentlichen Ärgernisses von A bis Z durchzudeklinieren und, bei Z angekommen, wieder bei A anzufangen. Wieso dann mein Bruder?
Sicher, Valentine hatte schon vorher mit richtig kriminellen Schlägertypen Umgang gehabt. Er war fast schon ein richtiger Ganove, er »borgte« sich von den Mietställen die Pferde aus und ritt mit ihnen nach Harlem und zurück, oder er redete mir ein,meine Eiscreme würde mir keine Schmerzen im Kopf bereiten, wenn ich sie auf dem Ofen warm machte, und lachte dann, wenn sie zur Pfütze schmolz. Zur Butter sagte er Schmunk und ein Sixpence-Stück nannte er einen Blechling. Einmal steckte er eine Tracht Prügel ein, weil er die Gemeindemitglieder, als sie aus der Kirche kamen, mit faulen Eiern beworfen hatte, und am nächsten Tag brachte er mir das Zigarrenrauchen bei. Aber als wir unsere Eltern verloren, ging auch er verloren. Er fand eine Wohnung für uns und lernte das Kochen. Das stimmt schon. Aber danach kam er jede Nacht blutig und mit Gin abgefüllt von einer Schlägerei mit irgendeiner Gang nach Hause oder aber völlig wirr und rußgeschwärzt von einem Feuerwehreinsatz. Er stank nach Rauch, dass ich Herzstolpern bekam. Und ich hasste ihn dafür. Er tat das alles absichtlich. Er würde mich im Stich lassen. Ich wusste es. Und dann hätte ich gar nichts mehr.
Wie kann man einem Mann verzeihen, dass er alles, was einem an Familie geblieben ist, wie eine öffentliche Müllhalde behandelt?, fragte ich mich.
»Mr. Wilde, verzeihen Sie meine Neugier«, sagte Reverend Underhill sanft, »aber diese abscheulichen Morde, von denen Mercy mir gestern Abend erzählt hat ... haben Sie da etwas Neues in Erfahrung bringen können?«
Er nennt sie Mercy, dachte ich und riss die Wunde wieder auf. Aber ich war ihm dankbar. Ich brauchte einen Menschen, mit dem ich vernünftig reden konnte. Und zwar einen, dem ich vertraute.
»Könnten Sie sich vorstellen, dass da ein Ire dahintersteckt, der den Verstand verloren hat und glaubt, er müsse für den Papst die Arbeit tun?«, fragte ich seufzend.
Reverend Underhill legte die Fingerspitzen aneinander. »Wieso fragen Sie das?«
»Weil mir diese Möglichkeit nahegelegt wurde. Aber es fällt mir schwer, das zu glauben. Ich bräuchte den ... den Rat eines Fachmanns.«
Reverend Underhill lehnte sich zurück und legte den Kopfnachdenklich zur Seite. Während Mercy auf Fragen immer mit einer Gegenfrage antwortete, beantwortete der Reverend sie mit Geschichten. Parabeln, nehme ich an, das war wohl berufsbedingt. Er tat es auch diesmal.
»Als Olivia noch lebte«, sagte er langsam, »tat sie ihr Bestes, mich zu überzeugen, dass der Papismus kein Anzeichen für einen intellektuellen oder moralischen Mangel war. Sie erinnern sich vielleicht an die Zeit, als die Finanzpanik ausbrach und die Leute buchstäblich auf der Straße verhungerten und wir in den Ställen Tote fanden, erfroren neben ihren eigenen Apfelkarren? Viele davon Iren.«
Ich nickte. Ich hatte damals Arbeit als Barmann, und Val war beim Feuerlöschen und seinen
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