Der Teufel von New York
meinem Geist blitzte das Bild auf, wie Mercy die gelblich verfärbten Laken eines Typhuskranken wechselte, als ich sie einmal zu den East Docks begleitet hatte, und plötzlich spürte ich eine große Unruhe. Bei dem Streit, den ich miterlebt hatte, ging es nur darum, dass sie überhaupt Katholiken aufsuchte, und gar nicht darum, dass sie dort die Kranken pflegte.
»Es wäre mir lieber, sie würde sich irgendwo in South Carolina um echte Sklaven kümmern als um diese Sklaven des Geistes, um die sie sich so halsstarrig bemüht.« Er machte eine seltsame Geste mit seinen sonst so flinken Händen. »Es hat sie in einer Art und Weise verändert, die ich nicht ganz verstehe.«
Bis zum Ende dieses Satzes konnte ich ihm leicht folgen, aber der Rest war für mich wie eine weiße Seite. Mercy war ganz gewiss in geistiger Hinsicht eine merkwürdige Mischung aus beiden Eltern – entschlossen und versponnen zugleich, wie eine Mischung aus Öl und Wasser, das machte sie faszinierend, aberauch undurchschaubar. Sie war schon immer die eigenwilligste Persönlichkeit gewesen, die ich kannte. Mercy bestand aus Tausenden von Dingen, die ich nicht ganz verstehen konnte. Deshalb konnte sie sich eigentlich nicht verändern, sie konnte nur noch mehr sie selbst werden.
»Ach, ich werde alt und sentimental«, bemerkte der Reverend leichthin, als ich schwieg. »Möge Gott sie an diesen Orten beschützen.«
Dem konnte ich nur zustimmen. Als ich aufstand und mich verabschieden wollte, kam mir etwas in den Sinn.
»Reverend, wenn ich Sie etwas fragen dürfte: Wenn Sie im Hinblick auf Blasphemie so stark empfinden, wieso sind Sie dann so tolerant gegenüber meinem Bruder?«
Ein Lächeln blitzte auf. »Sehen Sie diese Regale?«, fragte er und deutete auf die vielen Bücher. »Der Spielplatz meiner Tochter. Sie haben selbst etliche davon gelesen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich verwirrt, »ziemlich viele.«
»Nun ja, wenn Sie nicht hingeschaut haben, hat Ihr Bruder das auch getan. Wenn die Freiheit des Geistes eine Eigenschaft des Menschengeschlechts ist, die Bewunderung verdient, so ist Ihr Bruder ein höchst rühmenswerter Mann.« Er stand auf und schob seine Papiere zu einem akkuraten Stapel zusammen. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Mr. Wilde, und eine Bitte noch – würden Sie mich über Ihre Fortschritte unterrichten, sofern Sie es bedenkenlos tun können?«
Ich trat mit verwirrt und besorgt gerunzelter Stirn aus der Tür, und mir wurde klar, dass ich wieder vor meiner altbekannten Liste verschiedener Optionen stand, alle so ungastlich wie die Sahara. Und die Option, mich gründlich zu besaufen, war um einige Stellen weiter nach oben gerückt. Doch als ich die Tür hinter mir schloss, entdeckte ich Mercy.
Sie rannte. Ich hatte sie seit Monaten nicht mehr rennen sehen, sie sauste die Straße herunter, während ihr schwarzes Haar sich wild gegen das winzige Seidenhäubchen auf ihrem Kopf auflehnte, die tanzenden Schultern nackt unter dem breiten Kragenihres buttergelben Kleides, die Taille fest umspannt von plissierten Falten. Als Mercy mich sah, blieb sie keuchend stehen und ein Lächeln ging über ihr Gesicht. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte ich und wünschte mir bloß eine schnelle Antwort auf meine Frage.
Natürlich bekam ich keine.
»Mr. Wilde«, sagte sie atemlos und mit einem Lachen. »Ich habe Sie in den Tombs gesucht. Aber Sie waren nicht dort, und jetzt sehe ich, warum.«
Ich versuchte es noch einmal nachdrücklicher. »Ich bin froh, dass Sie mich gefunden haben. Aber was wollten Sie denn von mir?«
»Wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich dringend Ihre Hife brauche und dass es mit Ihrer Ermittlung in diesem schrecklichen Fall zu tun hat, dann würden Sie sofort mit mir gehen, nicht wahr?«
»Was ist geschehen?«, fragte ich unverblümt.
»Mr. Wilde«, sagte Mercy, während sich ihr Busen immer noch hob und senkte. »Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Sie Flash sprechen?«
12
Irland ist in einer jämmerlichen Verfassung – das Land steht fast vor einem Bürgerkrieg. Die Polizei hatte in Ballinghassig einen Unruhestifter festgenommen, und als die Menschen ihn zu befreien versuchten, wurde auf sie geschossen. Sieben Männer und eine Frau wurden auf der Stelle getötet. Es heißt, die Polizei habe ungesetzlich gehandelt, da sie nicht versucht habe, die Menge zur Vernunft zu bringen, bevor sie das Feuer eröffnete.
New York Herald, Sommer 1845.
»Klar
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