Der Teufel von New York
politischen Treffen gut untergebracht, und trotzdem war es eine grausame Zeit gewesen. Eine unvergessliche. Und es waren nicht nur Iren gewesen. Frühere Bankiers sprangen reihenweise aus den Fenstern, als praktische Alternative zum Tod durch Unterkühlung. Ich fand sie weder feige noch mutig. Nur sehr effizient.
»Nun ja, Olivia behauptete, diese armen Iren seien die Verkörperung der in der Bibel erwähnten ›diese meine geringsten Brüder‹, und so kümmerte sie sich um sie und gab ihnen zu essen, ganz gleich, ob sie nun ehrbar oder kriminell waren. Als sie sich in einem dieser Löcher die Cholera holte und daran starb, fragte ich mich und den Allmächtigen, warum ihr Argument mich nie überzeugt hatte, so voller Güte und Erbarmen es auch zu sein schien. Warum ich darauf bestanden hatte, Wohltätigkeit müsse an Reue und Besserung geknüpft sein. Nach vielen Monaten gab Gott mir die Antwort und ließ mich begreifen, wo sich Olivia geirrt hatte.«
Er lehnte sich vor und stellte sein Glas auf den Tisch. »Die Sünde des Mordens wird in diesem Land geahndet. Auch die Sünde der Falschheit oder des Diebstahls. Die Häresie aber, die größte aller Sünden, blüht und gedeiht. In der katholischen Religion wird der römische Papst wie ein Gott verehrt, den Menschen werden die Sünden nicht aufgrund ihrer Reue vergeben,sondern durch das Ritual, und wie leicht kann sich da der Missbrauch ausbreiten. Welche geheimen Gräueltaten werden hinter geschlossenen Türen begangen, wenn eine Organisation einem Menschen verpflichtet ist – statt Gott. Haben Sie die Iren hier gesehen, Mr. Wilde? Ihr Wille ist grauenvoll verkümmert, weil sie glauben, sie müssten sich einem Sterblichen unterwerfen, um das Heil zu erlangen. Sie trinken im Übermaß, sie werden von Krankheiten heimgesucht, haben einen lockeren Lebenswandel, und warum? Einzig und allein darum, weil ihre Religion ihnen Gott geraubt hat. Ich bin nicht länger bereit, mich ihrer anzunehmen, ehe sie nicht der Kirche Roms abgeschworen haben, denn ich fürchte um meine eigene Seele, wenn ich der Blasphemie Vorschub leiste. Olivia, möge sie selig ruhen, war zu großzügigen Geistes, sie sah ihren Irrtum nicht, und dann hat die irische Krankheit auch sie befallen«, endete er in kummervollem, aber zugleich resigniertem Tonfall. »Doch ich bete für die Iren, Mr. Wilde, für Gottes Vergebung und für ihre Erleuchtung. Ich bete jeden Tag für ihre Seelen.«
Ich musste an Eliza Rafferty denken und an die Ratten, mit denen sie zweifellos jetzt ihre Pritsche teilte, und dass ihr erstes Verbrechen darin bestanden hatte, dass sie Milch für ihren Säugling wollte, ohne dem Papst abzuschwören, und fühlte mich plötzlich sehr müde. Ich konnte nicht erkennen, wie die Gebete des Reverend etwas für sie hätten ausrichten können.
»Aber Sie können sich auch nicht vorstellen, dass hinter all dem vielleicht ein wahnsinniger Katholik steckt, der seinen Opfern Kreuze in den Leib schneidet?«, fragte ich leise.
»Jemand, der von Priestern erzogen wurde, vielleicht, solchen von der Sorte, die ihre sexuelle Not unter frommen Gewändern verstecken? Mr. Wilde, die Lösung, die man Ihnen nahegelegt hat, kommt mir nicht unmöglich vor. Nicht einmal verwunderlich.«
Das morbide Ticktack der mondgesichtigen Uhr hallte in meinem Kopf wider, ein martialisches Trommeln, das zu einem Punkt ohne Wiederkehr führte. Es mag albern erscheinen, in einer soriesigen Metropole das Gefühl zu haben, etwas Schlimmes werde geschehen, denn, nun ja, natürlich wird es das. Aber das Licht, das auf den Eichentisch und den hübschen Webteppich fiel, schien mir verändert. Vielleicht war es die Nachwirkung des Gewitters, das sich verzogen und uns allein zurückgelassen hatte.
»Miss Underhill geht auch in die Häuser der Katholiken«, murmelte ich.
»Gegen meinen Willen, ja, das tut sie, denn ich kann ihr kaum verbieten, in die Fußstapfen ihrer verstorbenen Mutter zu treten. Aber nur zu wohltätigen, niemals zu medizinischen Zwecken.«
Mein Atem geriet ein wenig ins Stocken. Dann nickte ich, dankbar für alles an mir, was mir half, mit meinen Gedanken hinterm Berg zu halten.
Er wusste also nichts.
Der Reverend hatte Mercy bei ihren Gängen zu den Armen nie begleitet, und sie hatte ihm offenbar den Eindruck vermittelt, dass sie bloß Zwirn und Speiseöl verteilte. Und da er selbst nur bei den Protestanten seelsorgerisch tätig war, hatte er nie auch nur das Geringste darüber verlauten hören. In
Weitere Kostenlose Bücher