Der Thron der Welt
wusch dem Piraten den Mund aus und steckte einen Finger hinein. Wo der Zahn gewesen war, gähnte eine Höhlung.
Er trat einen Schritt zurück. «Er ist raus. Ihr könnt ihn loslassen.»
Thorfinn kam auf die Füße wie ein betrunkener Seemann im Sturm. Als er sein Gleichgewicht einigermaßen halten konnte, riss er den Mund auf und tastete mit seinem dreckigen Zeigefinger darin herum. Ein irres Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er deutete auf Hero, machte einen Schritt, brach über einer Ruderbank zusammen und schlug der Länge nach aufs Deck, wobei er sich den Schädel heftig am Dollbord stieß. Eine Hand öffnete und schloss sich, ein Bein wurde hochgezogen und wieder ausgestreckt. Dann blieb er bewegungslos liegen.
«Du hast ihn umgebracht», sagten die Wikinger staunend.
Hero fühlte Thorfinn den Puls. «Er lebt. Wenn er aufwacht, sagt ihm, er soll sich den Mund mit gesalzenem Wasser ausspülen. Und er soll keine Essensreste in die Nähe des Lochs kommen lassen, bis es verheilt ist.»
Arne zwinkerte Hero zu. Die anderen Wikinger klopften ihm mit schallendem Gelächter auf den Rücken. «He, Hero», rief einer und nannte ihn zum ersten Mal bei seinem Namen, «lass mich mal dieses Gebräu probieren. Dafür lasse ich mir sogar einen Eckzahn ziehen.»
Sie segelten Richtung Süden die Küste des Weißen Meeres entlang, bis sie zu dem Waldgebiet kamen. Thorfinn hatte mit dem Wildreichtum nicht übertrieben. Lachse, die auf eine Herbstflut warteten, die sie hinauf zu ihren Laichgründen tragen würde, drängten sich in den Flussmündungen. Die Wikinger spießten sie vom Beiboot aus mit ihren Speeren auf, fingen sie mit Trichtern aus Weidengeflecht und holten sie mit Enterhaken, wenn sie wie Silberbarren über die Stromschnellen sprangen.
Thorfinns Wunde heilte. Die Schwellung ging zurück, und zugleich kühlte sich sein hitziges Temperament ab. In ruhigen Augenblicken schoben sich die Wikinger an Hero heran und baten ihn, ihre Leiden zu kurieren. Er erklärte sich bereit, zu tun, was er konnte, wenn er dafür besseres Essen bekäme. Dabei hielt er den Wikingern vor, dass ihre Kameraden auf der
Shearwater
wie die Könige mit dem Wild verpflegt wurden, das Wayland erlegte. Das war nicht einmal gelogen. An einem Tag beobachteten sie Wayland, wie er in einiger Entfernung zusammen mit einer Geisel ein Dutzend Birkhühner fing. Der Hund hatte ihm die am Boden sitzenden Vögel angezeigt, und Wayland warf ein Netz über den Schwarm. Abends rückten die Wikinger enger zusammen, um Hero am Lagerfeuer Platz zu machen, und lauschten andächtig wie Kinder, wenn er seine Geschichte weitererzählte.
An einem schönen Vormittag schlug Thorfinn einen Kurs ein, der von der Küste wegführte, bis das Land hinter dem Horizont versank. Auf spiegelglattem Wasser erreichten sie gegen Abend eine Gruppe bewaldeter Inseln, die noch einen Segeltag von der Spitze der Meeresbucht entfernt gelegen war. Die Wikinger hatten den Archipel auch früher schon als Zwischenstation genutzt und hielten auf ein Inselchen zu, das wie eine grüne Krone auf dem Wasser lag, in dem sich jeder Baum und jeder Fels spiegelte. Als sie näher kamen, musste Hero an die heiligen Haine der Antike denken, in denen die Orakel befragt worden waren.
Er stieg an Land und erwartete beinahe, gleich einen einfachen Tempel zu entdecken. Was er stattdessen sah, bestätigte seine Ahnung und wischte ihm das Lächeln aus dem Gesicht. Mitten auf der kleinen Insel sprudelte eine Quelle, um die Föhren und Birken standen, deren untere Äste mit Votivgaben behängt waren. Hero sah metallene Hammeramulette, einen vertrockneten Rabenflügel und in Knochen geschnitzte Abbilder von Freyr mit seinem immensen Phallus. Unter den Bäumen lagen viele Knochen. Hero erkannte einen Pferdeschädel und das Schulterblatt eines Schafes, beide grünlich mit Moos bewachsen. Als er eine jüngere Opfergabe entdeckte, stockte ihm das Blut in den Adern. Es war ein menschliches Skelett, das da auf dem Knochenhaufen lag, die Gebeine immer noch kalkweiß. Sein Blick zuckte aufwärts. Direkt über dem Skelett baumelte das ausgefranste Ende eines Stricks von einem Ast herab.
Als er sich umdrehte, hatte er Arne vor sich, der einen Birkenpfahl musterte, in den Runenzeichen geschnitten worden waren. «Wen habt ihr hier aufgehängt?»
«Ich weiß nicht. Einen Gefangenen. Einen Skraelinger …»
«Aber warum?»
«Bestrafung, Opfer … Frag Thorfinn.»
«Opfer? Ihr tötet Menschen, um eure
Weitere Kostenlose Bücher