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Der Thron der Welt

Der Thron der Welt

Titel: Der Thron der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Lyndon
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aufgestiegen.
    Wayland hatte sich schon oft gefragt, wie ein Falke, der aus vollkommener Dunkelheit entlassen wurde, so blitzschnell reagieren konnte. Der Vogel stieß sich von seiner Faust ab und flog niedrig über die Ebene, bevor er mit dem Steigflug begann. Der Kranich sah ihn und schraubte sich noch steiler empor. Dort oben war der Wind stärker als am Boden, und der Auftrieb wurde beschleunigt. Wayland biss sich auf den Zeigefingerknöchel. Er hatte den Falken zu spät losgelassen. Nun flog er zwar etwa doppelt so schnell wie der Kranich empor, doch er nahm eine etwas andere Bahn und hatte noch lange nicht genügend Höhe erreicht, um über seine Beute zu dominieren. Jeden Augenblick würde der Kranich seinen Vorteil nutzen und sich hoch über dem Falken in den Wind drehen.
    Da! Der Kranich drehte sich in die Windrichtung, und der Falke war immer noch gute hundert Fuß unter ihm. Ibrahim schrie gequält auf, als der Kranich, die langen Beine hinter sich herziehend, über sie hinwegstrich. Er knurrte Wayland an, weil er den Falken nicht früh genug hatte fliegen lassen. Doch Wayland wandte den Blick nicht von dem Falken ab. Das Tier flog noch immer gegen den Wind, gewann Höhe, und er fragte sich, ob der Falke den Kranich überhaupt als Beute erkannt hatte. Vielleicht suchte er nach dem Drachen.
    Der Kranich hatte einen enormen Vorsprung, als der Falke unvermittelt eine Kehre flog und seinen Angriff startete. Er jagte mit weitausholenden Flügelschlägen über ihren Köpfen zurück, immer noch in niedrigem Winkel steigend, und auch dann noch weiter in die Höhe steigend, als Wayland ihn vor der Unendlichkeit des Himmels nicht mehr ausmachen konnte.
    Ibrahim war den Tränen nahe, als sie sich auf die Suche machten. Beute verloren, Falke verloren. Wenn Wayland doch nur auf ihn gehört hätte. Wenn der Ungläubige doch nur nicht das Schicksal herausgefordert hätte, weil er glaubte, es beherrschen zu können. So ging es immer weiter, bis ihn die vielen Meilen auf der verlassenen Ebene zum Verstummen brachten.
    Sie fanden den Gerfalken, der sich an dem Kranich gütlich tat, eine Leuge von der Stelle entfernt, an der ihn Wayland hatte fliegen lassen. Er hatte sich den Kropf schon recht vollgestopft und mantelte, als Wayland ihn aufnehmen wollte. Wayland zog ihm die Haube über den Kopf und reichte ihn Ibrahim. Dann begutachtete er die Beute, weil er herausfinden wollte, wie der Falke sie erlegt hatte. Ein Flügel hing lose im Gelenk. Dort hatte der Falke den Kranich mit voller Fluggeschwindigkeit getroffen, sodass er sich nicht mehr in der Luft hatte halten können. Wayland sah sich den Hals des Kranichs an, weil er erwartete, dort den Nackenbiss zu finden, mit dem der Falke den Kranich getötet hatte. Doch der Hals war unverletzt. Er fuhr mit der Hand durch die Körperbefiederung des Kranichs und zeigte Ibrahim, was er dort entdeckte. Der Falkenmeister stieß einen erstaunten Ruf aus und winkte seine Gesellen zu sich. Der Falke hatte dem Kranich auf der rechten Seite die meisten Rippen gebrochen und sein Leben mit einem einzigen reißenden Hieb seines Krallenfußes ausgelöscht.
    «Yildirim»
, sagte Ibrahim. Er deutete zum Himmel hinauf und zeichnete mit den Fingern einen Zickzackblitz in die Luft, den er mit einem Explosionsgeräusch untermalte.
«Yildirim.»
    «Donnerschlag», sagte Wayland und nickte. Der Vogel des Thor, Kriegsgott des eisigen Nordens, der den tödlichen Hammer niederfahren ließ. «Das ist ein guter Name.»
    Auf dem Weg zurück neigten die Seldschuken ihre Gesichter dem Himmel entgegen und sangen Preislieder auf den Falken. Wayland stimmte nicht mit ein. Es wurde Abend, und als er weit vor sich die Feuer des Zeltlagers in der Dunkelheit leuchten sah, zügelte er sein Pferd und ließ sich mit einem Seufzer auf den Hals des Tieres sinken.
    «Warum ein so trauriges Gesicht?», fragte Ibrahim.
    «Es hat nichts mit dem Falken zu tun.»
    Beide hatten nur eine ungefähre Ahnung, was der andere sagte. Ibrahim sah Wayland forschend an. «Du bist ein seltsamer Jüngling. Immer machst du die Dinge komplizierter, als sie sein müssen. Das Schicksal wird auf deinem Lebensweg genügend Schwierigkeiten und Kummer für dich bereithalten, ohne dass du dir auch noch selbst welche machst.» Er hob mahnend den Zeigefinger. «Fordere das Schicksal nicht heraus, indem du den Falken morgen fliegen lässt. Gib ihm etwas Leichtes zu fressen, ohne einen Köder auszuwerfen. Lass den Vogel seinen heutigen Sieg noch frisch

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