Der Thron der Welt
Balken wie eine Harpune. Erneut nahmen die anderen das Seil und zogen. Der Mast hob sich ein paar Fingerbreit – und das genügte Vallon, um den Balken in die Lücke zu schieben. Er griff möglichst weit nach oben und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an den Hebel. Seine Halsschlagader trat hervor. An seiner Nase hing ein Schleimfaden.
«Er kommt», schrie Snorri.
Mit einem empörten Knarren bewegte sich der Balken ein paar Grad Richtung Senkrechte. Der Balken glitt weg, und Vallon stolperte, doch als er in die Höhe sah, schwebte der Mast noch. «Festhalten», rief er atemlos und schwankte zu den anderen zurück.
Der Hebel hatte den entscheidenden Unterschied gemacht. Langsam schwang die Mastspitze nach oben, mit jeder gewonnenen Handbreit wurde es leichter, ihn weiterzuziehen. Snorri gab ihnen Anweisungen. «Noch ein bisschen weiter. Bloß noch ne Winzigkeit. Brrr!»
Kurz bevor er in der Senkrechten war, schien der Mast beinahe gewichtslos. Snorri nahm ihnen das freie Ende des Seils ab und wand es um den Vordersteven. «Und jetzt passen wir den Fuß ein.»
Nachdem Raul und Wayland eine Zeitlang geschoben und gehebelt hatten, schien der Mast seinen Weg in das Kielschwein beinahe von selbst zu finden und sank mit einem dumpfen Dröhnen in den Sockel.
Snorri und Raul verzurrten den Mastfisch um die Basis. Als sie den Keil eingeschlagen hatten, richtete Snorri sich auf, begutachtete den Mast von allen Seiten und blickte dann Vallon an. «Gar nich ma schlecht.»
Die Mannschaft sank stöhnend auf die Decksplanken.
«Herumsitzen können wir später», sagte Vallon. «Wir müssen noch auftakeln.»
Doch nur Snorri und Raul wussten, wie das überhaupt zu bewerkstelligen war. Nachdem er geholfen hatte, die Rah hochzuziehen, sah er zu, wie die Wanten und Stage befestigt wurden. Dann ging Vallon zum Bug, um den Gezeitenstand zu überprüfen. Noch immer hielt sie der Nebel umfangen. Tau tropfte wie Regen vom Takelwerk. Die Kleidung, die er trocken angezogen hatte, sog sich schon wieder mit Feuchtigkeit voll.
Er spürte, dass ihm jemand nachkam. Hero bot ihm mit gesenktem Blick einen Becher Ale an. Vallon leerte ihn und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. «Was meinst du, wie viel Uhr es ist?»
«Ich kann es nicht mehr einschätzen. Ich weiß nicht einmal, in welche Richtung das Schiff fährt. Gott sei Dank ist Drogo genauso blind wie wir.»
«Da bin ich nicht so sicher. Hör mal das Geschrei, das die Vögel draußen auf See machen. Ich vermute, dass der Nebel nur an der Küste liegt und die Normannen da draußen abwarten, bis wir die Nase rausstrecken. Wir sind schließlich immer noch im Mündungsgebiet des Flusses, nicht auf dem offenen Meer.»
«Dann müssen wir beten, dass sich der Nebel bis zum Dunkelwerden hält.»
Mit einem Mal überkam Vallon eine Erinnerung. «Haben Tiere einen Verstand?»
Hero blinzelte bei dieser merkwürdigen Frage überrascht. «Aristoteles geht davon aus, dass der Mensch das einzige vernunftbegabte Tier ist. Warum?»
Vallon starrte in den Nebel. «Ich habe einmal das Quartier mit einer Ratte geteilt, die beinahe menschliche Schläue gezeigt hat. Jeden Abend, nachdem ich gegessen hatte, ist die Ratte erschienen, um die Krümel zu fressen. Sie kam immer um die gleiche Zeit, aus demselben Loch und durchquerte den Raum auf demselben Weg. Um sich zu verstecken, hat sie auf dem Rücken einen Stofffetzen mit sich herumgezogen. Würdest du nicht sagen, das zeigt, dass sie denken konnte?»
Hero ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. «Weil die Ratte Euch nicht sehen konnte, ist sie davon ausgegangen, dass auch Ihr sie nicht sehen konntet. Genau genommen ist ihre Schläue eigentlich Dummheit, denn Ihr hättet sie jederzeit töten können.» Er verlagerte sein Gewicht auf den Füßen. «Herr, das Quartier, von dem Ihr da sprecht – war es das Gefängnis, das Ihr erwähnt habt?»
Vallon nickte. «Ich erzähle dir ein anderes Mal davon.»
Snorri stieß einen Ruf aus. Vallon drehte sich um und rieb sich über die Wange. Die leichte Brise war beinahe sofort wieder erstorben, trotzdem spürte Vallon sie noch im Gesicht. «War das ein günstiger Wind?»
«Ja, aus Südwest.»
«Sind wir bereit zum Segeln?»
Snorri sah Raul finster an. «Is noch ein Haufen zu tun, aber wir werns schon schaukeln.»
Alle warteten und hoben gelegentlich mit prüfender Miene das Gesicht. Vallon öffnete und schloss die Fäuste. Dann bemerkte er, dass ihn Raul beobachtete, und er zwang sich
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