Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
klassisches Kristallgitter – stark genug, um den Turm aufrecht zu halten, aber extrem fragil, sobald der richtige Strang bricht.«
»Und wenn ich das recht verstehe, wird jedes Mal, wenn ich eine Stufe weitergehe, die darunterliegende wegbrechen?«
Das Grinsen des Zwergs wurde noch breiter. »Ist das nicht großartig? Du kannst nicht zurück, aber wenn du weiter hinaufsteigst, wird deine Lage womöglich noch schlimmer. Die Stufen fungieren als waagrechte Verstrebung der senkrechten Wände. Ohne die Stufen, die ihm Halt geben, verdreht sich der Rest und bricht schließlich zusammen. Noch ehe du oben bist, wird der ganze Turm einstürzen. Dann nämlich, wenn genügend Stufen weggebrochen sind. Und lass dich von meinen Ausführungen über das hohle Mauerwerk nicht in falscher Sicherheit wiegen. Es ist immer noch aus Stein und das Gesamtgewicht des Turms nach wie vor gewaltig. Es wird dich und die Dame dort oben mit Leichtigkeit zerquetschen, für den Fall, dass der Sturz und die spitzen Steine auf dem Grund noch nicht ausgereicht haben sollten, um euch zu töten. Du hast die Gesamtstruktur bereits so weit geschwächt, dass sie jederzeit nachgeben kann. Ich höre es im Wind – das ganze leise Knacken und Krachen. Aller Stein macht Geräusche, wenn er sich ausdehnt oder zusammenzieht, sich verschiebt oder zerfällt – das ist eine Sprache, die ich sehr gut verstehe. Sie erzählt mir Geschichten ausVergangenheit und Zukunft, und hier und jetzt singt dieser Turm.«
»Ich hasse Zwerge«, knurrte Royce.
9
Retter
Die Waschschüssel und der dazugehörige Krug fielen zu Boden und zerschellten. Arista, die auf ihrem Bett saß, fuhr erschrocken zusammen. Sie sah sich verwirrt um. Das ganze Zimmer wackelte. Schon den Sommer über hatte sich der Turm irgendwie merkwürdig angefühlt, aber so noch nie. Mit angehaltenem Atem wartete sie ab. Nichts. Der Turm stand wieder still.
Vorsichtig erhob sie sich, ging ans Fenster und schaute hinaus. Es war nichts zu sehen, was die Erschütterung erklärt hätte. Die Welt draußen war mit einer frischen Schneeschicht bedeckt. Es schneite immer noch, und sie fragte sich, ob Schnee, der vom Dach rutschte, das Zimmer zum Erbeben gebracht haben konnte. Es schien nicht besonders wahrscheinlich, war aber auch egal.
Wie viel Zeit habe ich noch?
Sie blickte hinab. Die Menge drängte sich immer noch am vorderen Tor, lauerte auf Neuigkeiten von ihrem Prozess. Rund ums Schloss patrouillierten dreimal so viele Wachen wie sonst, alle voll gepanzert und bewaffnet. Ihr Onkel ging kein Risiko ein. Glaubte er, die Stadtbewohner würden sich gegen ihn erheben, weil sie ihre Prinzessin nicht auf dem Scheiterhaufensehen wollten? Sie wusste, dass das nicht geschehen würde. Niemanden kümmerte es, ob sie starb oder nicht. Zwar kannte sie all die Grafen und Barone mit Namen und hatte Dutzende Male mit ihnen zu Tisch gesessen, aber sie wusste, Freunde waren sie nicht. Sie hatte keine Freunde. Braga hatte recht: Sie verbrachte zu viel Zeit in ihrem Turm. Niemand kannte sie wirklich. Sie führte schon lange das Leben eines Einsiedlers, aber jetzt fühlte sie sich zum ersten Mal allein.
Die ganze Nacht hatte sie überlegt, was sie sagen würde, wenn sie vor Gericht stünde. Am Ende war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht viel sagen oder tun konnte. Sie konnte Braga des Mordes an ihrem Vater bezichtigen, aber keine Beweise anführen. Alle Beweise waren auf Bragas Seite. Schließlich hatte sie die beiden Diebe befreit und trug Schuld an Alrics Verschwinden.
Was habe ich mir bloß dabei gedacht?
Sie hatte ihren Bruder zwei wildfremden Kriminellen anvertraut. Alric hatte ihnen selbst gesagt, dass er sie foltern lassen wolle, und sie hatte ihn diesen Kerlen ausgeliefert. Ihr wurde ganz schlecht bei der Vorstellung, wie die beiden über sie lachten, während sie den armen Alric im Fluss ertränkten. Jetzt waren sie wahrscheinlich schon auf halbem Weg nach Calis oder Delgos und stritten sich darum, wer wann den Ring mit dem königlichen Siegel von Melengar tragen durfte. Als die Kundschafter mit Alrics Gewand zurückgekehrt waren, hatte für sie festgestanden, dass ihr Bruder tot war, und doch gab es immer noch keine Leiche.
Ist es möglich, dass Alric noch lebt?
Nein, sagte ihr Verstand, viel wahrscheinlicher war, dass Braga Alrics Leichnam versteckt hielt. Wäre vor ihrem Prozess bekannt geworden, dass es diesen Leichnam gab, hätte sie Anspruch auf den Thron erheben können. Wenn sie erst
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