Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
einfach nur nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich muss wirklich damit aufhören.«
»Womit?«
»Mit Lügen.«
»Das war doch keine Lüge. Du hast es nur nicht richtiggestellt.«
»Das ist doch im Grunde dasselbe. Der Abt hat mir mal erklärt, Lügen ist Verrat an einem selbst. Es ist Ausdruck von Selbsthass. Man schämt sich so sehr für die eigenen Handlungen, Gedanken oder Absichten, dass man lieber lügt, als dazu zu stehen, wie man ist – oder dass man, wie in diesemFall, so tut, als wäre etwas anders gewesen, als es war. Wie andere einen sehen, wird wichtiger, als wer man wirklich ist. So wie wenn jemand lieber sterben will, als für einen Feigling gehalten zu werden. Sein Leben ist ihm nicht so wichtig wie sein Ruf. Aber wer ist letztlich mutiger? Derjenige, der lieber stirbt, als für feige gehalten zu werden, oder derjenige, der bereit ist, mit sich selbst zu leben, so wie er wirklich ist?«
»Tut mir leid, aber ich konnte dir nicht ganz folgen«, sagte Fanen, sichtlich verwirrt.
»Macht nichts. Aber der Prinz wollte mich als Chronisten der Geschehnisse dabeihaben, nicht als Krieger. Ich glaube, er will, dass ich das, was heute passiert, in einem Buch festhalte.«
»Na ja, wenn du das tust, lass bitte die Stelle aus, die beschreibt, wie Denek sich aufgeführt hat, weil er nicht mitdurfte. Das würde ein schlechtes Licht auf unsere Familie werfen.«
Alles, was sie unterwegs sahen, war Myron neu. Natürlich kannte er Schnee, aber nur vom Klosterhof. Wie sich das Weiß auf einen Wald legte oder an Bach- und Flussufern glitzerte, hatte er noch nie gesehen. Sie zogen jetzt durch dichter besiedeltes Gebiet, passierten Dorf um Dorf, jedes größer als das letzte. Myron war fasziniert: all die verschiedenen Arten von Häusern, Tieren, Leuten. In jeder Ortschaft kamen die Bewohner heraus, um das Spektakel anzusehen. Aufgeschreckt vom dumpfen Marschtritt der Soldaten stürzten sie aus ihren Häusern, und einige brachten sogar den Mut auf zu fragen, wohin sie marschierten, aber die Männer sagten nichts, denn sie hatten strikte Order, Schweigen zu bewahren.
Kinder rannten an den Straßenrand, und die Eltern zogen sie schnell wieder zurück. Myron hatte noch nie ein Kind gesehen – jedenfalls nicht, seit er selbst eins gewesen war. Es war nicht unüblich, dass Jungen mit zehn oder zwölf Jahren ins Kloster kamen, aber kaum je war einer unter acht. Staunend beobachtete Myron die ganz kleinen Kinder. Sie kamen ihm vor wie winzige Betrunkene, laut und meist dreckig, aber sie waren alle unglaublich niedlich und sahen ihn ungefähr so neugierig an wie er sie. Sie winkten, und Myron musste einfach zurückwinken, obwohl das vermutlich nicht besonders soldatisch war.
Der Heereszug bewegte sich erstaunlich schnell. Die Fußsoldaten, die wie ein Mann auf Befehle reagierten, marschierten abwechselnd im Schnellschritt und einem nur unwesentlich langsameren Erholungstempo. Alle machten grimmige Gesichter.
Stundenlang marschierten sie so, ohne jede Feindberührung: keine Vorposten, die sie aufzuhalten suchten, niemand, der ihnen am Weg auf lauerte. Myron erschien das Ganze eher wie eine aufregende Parade denn wie der Marsch in eine Schlacht mit ungewissem Ausgang. Dann tauchte endlich in der Ferne Medford auf. Fanen zeigte auf den mächtigen Glockenturm der Mares-Kathedrale und die hohen Spitztürme von Schloss Essendon, auf denen keine Fahne wehte.
Ein Späher kam angeritten und meldete, dass rings um die Stadt eine starke Streitmacht in Stellung sei. Die Adligen befahlen ihren Kompanien, sich zu formieren. Flaggen übermittelten Kommandos, Schützen bespannten ihre Bogen, und das Heer unterteilte sich in einzelne Blöcke. Die aus Dreierreihen bestehenden Kolonnen bewegten sich wie ein einziger Organismus. Die Bogenschützen wurden nach vorn beordert, direkt hinter die Fußsoldaten.
Myron und Fanen, die nach hinten geschickt worden waren, ritten mit den Köchen an eine Stelle, wo sie alles sehenund hören konnten. Von seinem Beobachtungsposten aus erkannte Myron, dass ein Teil der Armee sich vom Hauptheer getrennt hatte und zur rechten Seite der Stadt hinüberschwenkte. Als die Marschreihen höher gelegenes Terrain erreichten und von den Schlossmauern aus sichtbar waren, erscholl dort ein lautes Horn.
Eines ihrer eigenen Hörner antwortete, und die Bogenschützen von Galilin schossen eine Salve auf die Verteidiger ab. Für einen Moment schienen die Pfeile in der Luft zu hängen wie eine dunkle Wolke. Als sie
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