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Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)

Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)

Titel: Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Riemann
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war Ödipus, und er blendete sich zur Strafe für seine Taten. Er war härter gegen sich als alle anderen, er verzieh sich nicht, was er getan hatte, er versuchte auch nicht, sein Handeln zu entschuldigen, und das ist typisch für Steinbock/Saturn. Ein anderer hätte vielleicht gesagt: »Was kann ich dafür, ich wusste es doch nicht, und außerdem, meine Eltern verdienen es nicht anders, sie haben mich ausgesetzt, wollten mich töten lassen, sie sind selbst schuld.« Stattdessen erlebte er einen »saturnischen« Zusammenbruch: »Ich bin an allem schuld, ich habe gesündigt.« Er nahm die Verantwortung im Übermaß auf sich. Steinbockbetonte Menschen kennen diese schwer auszuhaltende Last von Schuld. Am Schluss der Geschichte wurde Ödipus von seiner Tochter Antigone auf seinem letzten Gang bis zur Unterwelt begleitet. Es heißt, dass in dem Moment, als Ödipus in die Unterwelt eintrat, helles Licht zu sehen war, und der Mythos schließt mit den Worten: »So endet das Leben des großen Dulders Ödipus.«
    Was für ein saturnischer Entwicklungsweg, angefangen bei dem Kindheitsorakel, das seit seiner Geburt wie ein Fluch über ihm schwebte und aus ihm ein ungewünschtes Kind machte! Wahrscheinlich ist die schlimmste aller Botschaften, die man einem kleinen Kind vermitteln kann: »Es wäre besser, du wärest nie geboren.« Wenn die Mutter Abtreibungsversuche unternimmt, etwa weil die Beziehung schlecht ist oder die materielle Situation schwierig oder weil das Kind aus anderen Gründen unerwünscht ist, wird es wie Ödipus in eine Welt hineingeboren, die ein steiniger Erdboden ist, wo der Mutterleib kein Schlaraffenland ist, sondern eher ein Kühlschrank. Karl Valentin gehörte vermutlich auch zu dieser Sorte Menschen, denn von ihm stammt der Satz: »Besser wäre es, man wäre nicht geboren, aber dieses Glück hat unter Tausenden kaum einer.«
    Ich möchte jetzt nicht den ganzen Ödipus-Mythos deuten, sondern den saturnischen Aspekt dieser Geschichte hervorheben: die von vornherein belastete Kindheit, die schicksalhafte Situation, das Verhängnis, dem man nicht entkommen kann. Dazu gehört auch das Los, dem Schicksal in die Arme zu laufen, gerade weil man ihm ausweichen möchte.
    Die Indianer haben dazu einen sehr einfachen Satz: »Wovor du Angst hast, daran wirst du sterben.« Wenn man nicht bereit ist, gewissen bitteren Wahrheiten ins Gesicht zu schauen, wenn man davor flüchtet, werden einen genau diese Wahrheiten, diese Orakel irgendwann einholen. Dass Ödipus, der ein guter König war und von allen geschätzt und geliebt wurde, so grausam mit sich selbst umgeht, zeigt sehr gut die schlimmste Seite von Saturn: übermäßige Strenge mit sich, Selbstbestrafung bis hin zum Selbsthass. Bei Saturn haben wir es nicht mit der selbstbewussten Reaktion der unbesiegbaren Feuer-Kinder zu tun – ihr seid schuld, ich zeig’s euch, ich habe ein Recht zu leben -, sondern hier verbergen sich die Gefahr der Resignation und die Überzeugung, kein Recht auf Leben einfordern zu können. Das kann dazu führen, dass man später glaubt, es dürfe einem nicht gut gehen, ohne dass man sich schuldig fühlt. Immer wieder taucht dann die Frage auf: »Hab ich’s verdient?«

Die zwölf Brocken
    In der Märchenwelt finden wir als Saturn-oder Steinbock-Entsprechung den Großvater, die Großmutter, den alten Weisen und die alte weise Frau. In dem Märchen Die zwölf Brocken gibt es eine sehr naturverbundene Frau, die jeden Tag aus einer Gebirgsquelle zwölf Kürbisflaschen voll Wasser holt. Für die bekommt sie zwölf Brocken Brot und kann davon sich und ihre kleine Tochter ernähren. Eines Tages kommt der Zar dort vorbei, dessen Frau gestorben ist. Als er die wunderschöne, tüchtige Erdfrau sieht, denkt er an seinen armen kleinen Sohn und fragt sie: »Ich bin der Zar und brauche eine Frau im Haus. Willst du meine Frau werden?« Das Interessante an dieser Begegnung ist die Motivation: Der Zar denkt sich nämlich, die Frau wäre doch passend als Mutter für meinen kleinen Sohn und für den Haushalt. Das heißt, er ist nicht an ihrem Wesen interessiert. Er stellt nicht die Frage »Wer bist du?«, sondern »Wie kannst du mir nützlich sein?«. Deshalb ist es kein Wunder, dass diese einfache Frau am Zarenhof auf einmal böse wird. Sie wird neidisch und gierig, will alles ihrem eigenen Töchterchen geben und den Sohn des Zaren verderben. Sie schafft es tatsächlich, durch eine Intrige den Zaren gegen seinen Sohn einzunehmen. Der Sohn wird verstoßen

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