Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
Sicher, alle Menschen haben die grundsätzlich gleiche Anatomie, aber schon der Fingerabdruck weist sie als einmalig aus. Was bedeutet es, mit diesem Grundgefühl zu leben? Oskar Adler spricht hier von »Prinz inkognito« oder »Prinzessin inkognito«. Es geht um das Gefühl, einen inneren Adel zu besitzen, etwas Besonderes zu sein, hier allerdings nicht im Sinne des Schütze-Prinzips, in dem dieses Thema auch zu Hause ist, aber eher mit der Tendenz, sich über die Durchschnittlichkeit der Menge zu erheben, herauszuragen. Bei Wassermann geht es nicht um diese Art von »Prominenz«, sondern schlicht um das Anders-Sein, ohne den hierarchischen Gedanken. Das Ideal ist hier die absolute innere Freiheit von der Diktatur des »Man«, von Urteilen und Bewertungen der anderen, der herrschenden Könige.
Der Wassermann-Guru schlechthin ist Diogenes. Er wohnte völlig unabhängig von der Welt in einer Tonne und erkannte in dieser Tonne das ganze Universum. Wie so ein Wassermann-Vertreter auf den Gegenpol Löwe reagieren kann, den Herrscher der äußeren Welt, zeigt eine Anekdote. Der mächtigste Mann der Welt, Alexander der Große, suchte Diogenes auf. Er stellte ihm jeden Wunsch frei, doch dessen einzige Forderung an Alexander war: »Geh mir aus der Sonne.« Das ist extreme Wassermann-Haltung: absolute Unbestechlichkeit und innere Unabhängigkeit, auch in Hinblick auf Ruhm und Glanz. Jeder kann im Leben seine Tonne finden oder seinen einsamen Planeten. Ein Bild aus Der kleine Prinz , das wassermännische Qualität hat, ist der König, der allein einen Planeten bewohnt. Ein Wassermann-betonter Mensch wird sich oft so fühlen.
Carl Gustav Jung, der Wassermann-Aszendent hatte, war das Gesetz der Individualität und der Aufruf zur Individuation ein zentrales Anliegen. Einige seiner Sätze haben sich mir sehr stark eingeprägt: »Der erste Schritt zur Individuation ist die Ablösung des Einzelwesens von der Ununterschiedenheit und Unbewusstheit der Herde. Es ist die Vereinsamung des reifen Menschen, der nicht mehr von den Werturteilen seiner Umwelt abhängt, sondern in seiner Beziehung zum Selbst fest verankert ist.« Das Selbst in der Sprache von Jung ist die transpersonale göttliche Kraft, zu der wir alle, jeder auf seinem Weg, Anschluss finden können.
Auf die Frage, wie geht Liebe, wie ist Beziehung unter dieser Voraussetzung möglich, könnte man mit dem Leitsatz »Einsam wie ein Baum, brüderlich wie ein Wald« antworten. Das Zauberwort für wassermännische Liebesenergie ist Freundschaft.
Das Wassermann-Zeitalter
Die Erdachse vollführt in einem Zeitraum von etwa 26 000 Jahren eine Rotation, während der der Punkt des Frühlingsanfangs durch den gesamten Tierkreis wandert. Etwa zweitausend Jahre lang war dieser Frühlingspunkt im Sternbild Fische, und die zweitausend Jahre, an deren Anfang wir uns jetzt befinden, ist er im Sternbild Wassermann. Deshalb sprechen wir vom Wassermann-Zeitalter. Das Wassermann-Thema ist deshalb seit einigen Jahrzehnten kollektiv höchst aktuell, es entspricht dem Zeitgeist. »Einsam wie ein Baum, brüderlich wie ein Wald« kann auch kollektiv als Leitmotiv für Beziehungen im neuen Zeitalter verstanden werden. Auf der einen Seite geht es um die Vision des Netzwerks, der Menschheitsfamilie, der Sanften Verschwörung , wie Marilyn Ferguson ihr Buch nannte, eine Welt, in der alle Menschen Brüder und Schwestern sind, egal ob schwarz oder weiß, alt oder jung, Ost oder West. Eine technische Entsprechung dieses Netzwerks ist das Internet. Entfernungen spielen keine Rolle mehr. Die Problematik des neuen Zeitalters, die sich abzeichnet, ist, dass durch die Technologisierung der Welt eine Anonymität entsteht, die im Extremfall herzund seelenlos wird. Wassermann braucht eben immer auch den Gegenpol Löwe, dessen herzliche südländische Energie dafür sorgt, dass das Ganze nicht zu cool, zu anonym, zu unverbindlich wird.
Die helle und die dunkle Seite von Wassermann lassen sich sehr gut an dem Wort »verrückt« veranschaulichen. Uranus, der Wassermann-Herrscher, ist verrückt, weil er nicht ins alte System gehört. Wassermann sein heißt auch, angetreten sein, um ver-rückt zu werden, das heißt, sich vom Geist der Väter zu verabschieden, gegen alte Könige zu rebellieren und gegen das, was diese Könige repräsentieren. Die Aufgabe des Wassermanns ist es, als Narr oder Närrin den Weg nach Utopia zu tanzen, einer Vision zu folgen. Ein echter Wassermann kann seiner Zeit weit voraus sein. Das
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