Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
den goldenen Vogel nach vielen Abenteuern durch die Hilfe des Fuchses. Als er sich mit diesem Vogel auf den Heimweg ins alte Königreich macht, gibt ihm der Fuchs zwei Botschaften mit: »Es warten noch Gefahren auf dich. Ich rate dir: Kauf kein Galgenfleisch, und setz dich an keinen Brunnenrand.« Der Held schert sich nicht um den Rat und tut beides: Er kauft seine beiden Brüder vom Galgen los, die auf der Suche nach dem goldenen Vogel gleich im ersten Wirtshaus stecken geblieben sind. Statt dem Pfad der Entwicklung zu folgen, haben sie ihr Geld vertrunken und Spielschulden gemacht, und deswegen sollen sie gehängt werden. Er hat ein in dem Fall völlig unangebrachtes Mitgefühl mit seinen Brüdern und kauft sie vom Galgen frei. Zum Dank stoßen die beiden ihn in den Brunnen und nehmen ihm den goldenen Vogel weg. Triumphierend bringen sie ihn dem König, aber in falscher Hand singt und frisst der Vogel nicht. C. G. Jung hat einmal gesagt: »Gebraucht der falsche Mann die rechten Mittel, so wirkt das rechte Mittel verkehrt.« Wer sich die Weisheit des goldenen Vogels nicht durch einen eigenen inneren Entwicklungsweg verdient hat, für den taugt diese Weisheit nicht. Der Held kommt mit Hilfe des Fuchses schließlich aus dem Loch heraus und wird doch noch König.
Ein wichtiges und häufiges Märchenmotiv ist der beschwerliche Heimweg. Oft scheint eine Geschichte eigentlich zu Ende zu sein – hier hat der Held den goldenen Vogel endlich gefunden -, aber von wegen! Als er den Entwicklungsimpuls, den goldenen Vogel, ins alte Königreich heimbringen will, lauern ihm die Wegelagerer, die älteren Brüder auf, die dem alten System schon dadurch näher sind, dass sie älter sind. Das ist immer so: Wenn man einen Entwicklungsimpuls für sich gefunden hat, gespürt hat, wie Leben nach der eigenen persönlichen Weisheit gehen kann, dann ist es sehr schwer, diesen neuen »Entwicklungsvogel« hinüberzuretten in die Alltagswelt des vertrauten Königreichs.
Nehmen wir einmal an, man hat eine Reise in ein anderes Land gemacht und dort ganz in Einklang mit sich selbst gelebt, frei, lustvoll, unbeschwert, meditativ, einfach und naturnah – wie auch immer. Man hat also seinen goldenen Vogel gefunden und nimmt sich vor, ihn mit nach Hause zu nehmen: Jetzt wird daheim alles anders … Mit jedem Kilometer, den man seinem Heimatort näher kommt, werden die alten Brüder, wird das alte System mächtiger, und damit die Bereitschaft, Galgenfleisch zu kaufen, sprich, Energie zu investieren in die alten, vertrauten, lebensfeindlichen Denk-und Verhaltensmuster. Ist man dann wieder im Alltagsgrau, im vertrauten Rattenrennen gelandet, haben die Brüder den goldenen Vogel geraubt. Diese Brüder sind immer außen und innen zugleich: außen die Umgebung, die niemandem gestattet, ungestraft aus der Norm zu fallen, innen die alten gelernten Muster der Sohn-und Tochter-Mentalität.
In meinen Gruppen ist »Galgenfleisch kaufen« ein geflügeltes Wort geworden. Wenn jemand zum Beispiel in einer Selbsterfahrungsgruppe in der Toskana gespürt hat, wie es geht, seinen Körper zu bewohnen, offene, unverstellte Begegnungen mit Menschen zu haben, so wie es daheim meistens nicht passiert, dann ist die »Heimkehrschwierigkeit« oft groß. Man kann dann das Gefühl bekommen, diese Reise, Gruppe, das Retreat im Kloster hätte ich mir sparen können, es hat ja doch nichts gebracht, vielleicht war alles nur eine schöne Illusion. Hier hilft die List des Fuchses, aus dem Loch herauszufinden, in das man zu Hause wieder fällt. Man muss schlau sein, aufmerksam. Don Juan empfiehlt mitunter die Haltung der »kontrollierten Torheit«, das heißt, die Spiele der anderen, der Herde mitzuspielen, ohne sich innerlich damit zu identifizieren. Offene Rebellion kostet viel Kraft und ist manchmal aussichtslos. Man muss versuchen, immer wieder aufzubrechen zu sich selbst, immer wieder loszufliegen. Der goldene Vogel ist keine Dauererrungenschaft.
Jemelja
Es gibt ein russisches Märchen, das heißt Jemelja der Narr oder auch Auf des Hechtes Geheiß , weil Jemelja, die Hauptgestalt, mithilfe eines Hechtes alles bekommt, was er möchte. Er hat diesen Hecht gefangen und dann wieder ins Wasser geworfen und ihm so das Leben geschenkt. Jemelja ist von Anfang an ein respektloser Bursche und ein Verweigerer. Er liegt immer hinterm Ofen, und wenn die älteren Schwestern sagen: »Komm, hol Wasser oder hacke Holz«, sagt er bloß: »Ich hab keine Lust.« Auch später ist er einer, der
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