Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
erinnert an einen Wissenschaftler, in dessen Nachruf stand: »Ein Narr verließ die Welt, und die Welt bleibt dumm.« Wer kann schon beurteilen, ob jemand ein wirkliches Genie ist, seiner Zeit voraus, ein Visionär oder einfach nur ein ganz normaler Spinner? Ver-rückt sein kann heißen, sich mit einer Vision zu identifizieren und grundsätzlich bereit zu sein, aus alten Systemen auszusteigen, eine persönliche Form von Freiheit zu leben. Auf der anderen Seite gibt es ein Verrücktsein, das in die Psychiatrie führt. Auch wenn es paradox klingen mag: Solange er sich gestattet, bewusst den Narren oder die Närrin, die verrückte, freiheitsliebende Seite des eigenen Wesens zu leben, läuft ein Wassermann-betonter Mensch weniger Gefahr, auf negative Art verrückt zu werden. Versucht er jedoch um jeden Preis, brav und normal zu bleiben, nicht aus der Norm zu fallen, dann wird die wassermännische Stimme in ihm irgendwann aufbegehren und finden: Diese Normalität ist doch zum Verrücktwerden. Die Wertmaßstäbe sind hier in gewisser Hinsicht auf den Kopf gestellt. Ein echter Wassermann sagt: Die Verrückten sind die Schafe in der Herde, die sich von den Zeigefingern anderer Leute leiten lassen, sich der Diktatur des »Man« unterwerfen, die nicht nach ihrem eigenen inneren Gesetz leben, sondern sich diese Gesetze von anderen vorschreiben lassen. Das Verhältnis zur Autorität ist gegenläufig zu dem, was wir bei Steinbock kennen gelernt haben. Diese innere Freiheit kann im Extremfall zu der Überzeugung führen, dass Gesetze, welcher Art auch immer, nur für die anderen gelten.
Auch hier sieht man wieder, wie wichtig es ist, dass ein Austausch zwischen den Polen stattfindet, denn jedes Prinzip, das verabsolutiert wird, kann gefährlich werden, individuell wie kollektiv. Neben der Freiheitsstatue in New York müsste eigentlich eine Verantwortungsstatue stehen. Für die uranische Weisheit des Wassermanns ist die saturnische Wahrheit des Steinbocks die notwendige Ergänzung.
Das alte Königreich
Ein Märchenmotiv, das ich bei Widder schon angesprochen habe und das auch hier eine besondere Bedeutung hat, ist das Verlassen des alten Königreichs. Ein Held oder eine Heldin, die sich selbst finden möchten, müssen das alte Königreich, das Reich des Vertrauten, verlassen. Wer sich entwickeln will, muss sich in fremde, unvertraute Welten wagen. Nur dort findet er, was er sucht, sei es ein goldener Vogel, eine Kristallkugel oder der Rat eines alten Weisen, einer alten weisen Frau, jener Gestalten, die das innere Gesetz repräsentieren. Der alte Schamane Don Juan sagte zu seinem Schüler Carlos Castaneda: »Wenn du auf dem Weg des Wissens bist, musst du dich unerreichbar machen.« Erreichbar sind wir einmal durch finanzielle Sorgen und Nöte, und da empfiehlt er: »Lebe einmal einige Zeit in der Natur, ernähre dich von Wurzeln und Beeren, und wenn du merkst, dass die Existenz für dich sorgt, dann wirst du durch materielle Sorgen nicht mehr so leicht erreichbar sein.« Erreichbar sind wir jedoch auch, wenn wir im Reich des Vertrauten sind, unter Menschen, die uns kennen. Diese Menschen haben bestimmte Erwartungen an uns, sie wollen, dass wir uns so verhalten wie immer, dass wir funktionieren, und dieser Erwartungsdruck ist für uns alle so mächtig, dass wir uns im Rahmen dieser vertrauten Umgebung nur schwer individuieren können. Deswegen ist es wichtig, das Reich der vertrauten Menschen immer wieder zu verlassen. Interessanterweise spielt es im Märchen letztendlich kaum eine Rolle, ob man freiwillig geht oder verstoßen wird. Ein weiser Wassermann dankt am Ende seines Lebens allen Menschen, die ihn verstoßen, im Stich gelassen, auf sich selbst zurückgeworfen haben, denn gerade in diesen Phasen der Einsamkeit, des Alleingangs war er sich selbst vielleicht am nächsten. Oft legt man es auch unbewusst darauf an, verstoßen zu werden, indem man sich im vertrauten Königreich unmöglich benimmt, gegen alle Regeln verstößt.
Der goldene Vogel
Der Märchenheld hat die Aufgabe, Welten zu verbinden. Oft gehen die Gestalten des Märchens in eine fremde Welt und bringen, was sie dort finden, ins alte Königreich zurück. Dieser Entwicklungsimpuls erneuert dann das alte, verstaubte Königreich. Das passiert zum Beispiel in dem Grimmschen Märchen Der goldene Vogel , und allein schon das Motiv des goldenen Vogels ist ein typisches Wassermann-Motiv. Der goldene Vogel symbolisiert göttliche Weisheit. Der Held der Geschichte bekommt
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