Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
keinen Respekt vor dem König hat, mit ihm Schabernack treibt, eine klassische Narrengestalt, aber am Ende seines Weges wird er schließlich selbst König. Bei meinen Märchengruppen habe ich mitunter erlebt, dass besonders ernsthafte Leute diesen Jemelja vollkommen ablehnten, weil sie das Gefühl hatten, ein so respektloser und fauler Kerl habe es nicht verdient, König zu werden. Aber die Wege zum Thron sind nun einmal sehr unterschiedlich, und warum soll es keinen Selbstfindungsweg geben, der von der Heiterkeit des Narren, vom Lachen geprägt ist? Lachen, Leichtigkeit und Tanz – das ist die Energie von Wassermann, wenn sie frei fließen darf.
Hans im Glück
Dieses Grimmsche Märchen hat insofern wassermännische Motive, als der Märchenheld Hans scheinbar immer den schlechteren Tausch macht, sich letztendlich jedoch dadurch die Freiheit einhandelt. Am Anfang bekommt er einen Goldklumpen von seinem Herrn, den er dann für ein Pferd eintauscht, dieses für eine Kuh, die Kuh für ein Schwein und das Schwein für eine Gans, die Gans schließlich für zwei gewöhnliche Steine. So richtig zufrieden ist er allerdings erst, als ihm die zwei schweren Steine in einen Brunnen fallen und er endlich ganz frei ist. Das ist ein wassermännischer Entwicklungsweg: die Befreiung von allem Ballast, von allem, was bindet und verpflichtet. Dazu gehört auch Besitz. Wer besitzlos ist, mag in den Augen anderer arm sein, aber er hat auch nicht die Verpflichtung, die eine Burg mit sich bringt. Armut kann die Rückseite von Freiheit sein und dadurch eine andere Form von Reichtum. Dieses Märchen wäre perfekt wassermännisch, wenn Hans im Glück zum Schluss nicht zu seiner Mutter zurückkehrte. Das entspricht nicht unbedingt der Gesinnung dieses Zeichens.
Die Experten streiten sich über die Beurteilung des Hans im Glück : Ist er nun ein Gewinner oder ein Verlierer? Ist er ein weiser Narr auf dem Weg des Loslassens oder ein lebensuntüchtiger Dummkopf? Der Rabbi aus der Zwillinge-Geschichte würde antworten: »Ja.«
Die Zauberflöte
Eine wassermännische Vision enthält Mozarts Oper Die Zauberflöte . Ich habe das im Waage-Kapitel schon angedeutet. Mein alter Freund Helmut Remmler vertrat die Theorie, dass Mozart, selbst Wassermann, in dieser Oper eine Vision des neuen Zeitalters geschaffen hat. Da ist zunächst der klassische Individuationsweg, den Tamino geht: Er löst sich erst aus dem Reich des Mütterlichen, der »Königin der Nacht«, und dann aus dem Reich der Väter, der Priesterkaste Sarastros. Man kann die Auswirkungen des Wassermann-Zeitgeistes auch daran erkennen, wie es heute den Priestern ergeht, den Repräsentanten der institutionalisierten Religionen. Es entspricht nicht dem Geist des Wassermanns, irgendetwas zur Institution zu machen, Gott für eine Kirche oder einen »-ismus« zu reservieren. Am Schluss der Zauberflöte , wenn Tamino und Pamina ihren Prüfungsweg gehen, heißt es: »Die Götter selbst beschützen sie.« Das bedeutet, jeder Mensch muss seine individuelle Anbindung ans Göttliche finden, ohne Mittler, ohne Priesterkaste.
Den positiven Aspekt der Wassermann-Vision sehe ich auch darin, dass Sarastro nicht getötet werden muss; er ist am Ende einfach unwichtig, abseits. Helmut Remmler hat anhand von Musikbeispielen immer wieder genüsslich gezeigt, wie Mozart Sarastro durch vergleichsweise banale Musik geradezu lächerlich gemacht hat. Auf diese Art alte, unzeitgemäße Autoritäten zu überwinden, den alten Predigern einfach nicht mehr zuzuhören, ist wassermännisch. Das Problem ist, dass dadurch ein kollektives Vakuum entsteht: Ohne Könige und Sarastros sind wir frei, aber auch »vaterlos«. (Alexander Mitscherlich behandelt dieses Thema in seinem Buch Die vaterlose Gesellschaft .) Da hilft es jedoch nicht, nach der Rückkehr des alten Königs zu rufen – diese Tendenz ist verständlich, wenn auch nicht ungefährlich, wie man an Neonazis und religiösen Fundamentalisten sehen kann. Hier hilft die Botschaft der Zauberflöte oder auch die des spirituellen Lehrers Krishnamurti, der einen Wassermann-Aszendenten hatte: »Folge keinem Guru nach, sei dein eigener Guru.« Die aus diesem Weg resultierende Einsamkeit ist oft schwer zu ertragen, nichtsdestoweniger in bestimmten Lebensphasen unumgehbar. Ein positives Modell für diese »wesentliche Einsamkeit« ist die Visionssuche – die Zeit, in der ein Indianer seinen Stamm verlässt, allein in der Wildnis oder auf einem Berg lebt und auf seine Vision
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