Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
geben, du kannst mich überhaupt nicht erreichen. Diese Haltung kann weise sein im Sinne einer Distanz zu kriegerischen Auseinandersetzungen: Indem man Beobachter wird, bekommt man Abstand zur eigenen Wut und ist ihr nicht mehr so ausgeliefert. Aber neben dem heißen Bösen, das eher zu Widder gehört, gibt es auch das kalte Böse, und diese Haltung kann im Extremfall dazu führen, dass man eisig und unbeteiligt wird und dadurch unmenschlich.
Wer bin ich?
Noch eine Geschichte: Nasreddin Hodscha, der Narr, der in vielen östlichen Geschichten auftaucht, kehrt auf seiner Wanderung in ein Gasthaus ein und teilt dort das Zimmer mit einem Gefährten. Er hat große Angst vor dem Einschlafen, weil es ja sein könnte, dass er am nächsten Morgen aufwacht und nicht mehr weiß, wer er ist. Da kommt er auf den rettenden Einfall, sich einen Luftballon um den linken großen Zeh zu binden. Beim Anblick des Luftballons am nächsten Tag würde er wissen: »Ich bin ich«. Als sein Zimmergenosse ihn erstaunt fragt, was er mit dem Luftballon vorhat, erklärt Nasreddin ihm die Sache und schläft beruhigt ein. Der Zimmergenosse will ihm einen Streich spielen: Er nimmt ihm heimlich den Luftballon weg und bindet ihn sich selber um den Zeh. Am nächsten Morgen wacht Nasreddin als Erster auf und sieht den Luftballon am Zeh des anderen. Schwer beunruhigt weckt er seinen Gefährten: »Entschuldige, aber ich habe ein Problem, du musst mir helfen. Eines ist mir nämlich klar: Du bist ich. Aber wer bin dann ich?«
Fische
Zwei Chinesen
Es gibt eine alte Geschichte, in der stehen zwei Chinesen an einem Fluss und sehen den Fischen zu, wie sie im Wasser spielen. Der Erste sagt zu dem Zweiten: »Sieh nur, wie die Forellen springen, das ist die Freude der Fische.« Sagt der Zweite: »Du bist kein Fisch, also kannst du nicht wissen, ob die Fische sich freuen.« Sagt der Erste: »Du bist nicht ich, also kannst du nicht wissen, ob ich weiß, dass die Fische sich freuen.« Sagt der Zweite: »Du hast Recht, ich bin nicht du, aber eines kann ich genau sagen, du bist kein Fisch, also kannst du nicht wissen, ob die Fische sich freuen.« Da lacht der Erste und sagt: »Du fragtest, obwohl du die Antwort im Grunde sowieso kennst. Ich weiß es, weil ich mich freue.«
Das Salzkorn
Oskar Adler gibt eine Definition von drei verschiedenen Bewusstseinshaltungen des Menschen in dem Gleichnis vom Stein im Wasser, vom Salzkorn im Wasser und vom Tuch im Wasser. Das Bewusstsein des Steins im Wasser ist das in der westlichen Welt meistverbreitete. Wir erleben uns getrennt von dem, was da draußen ist, fühlen uns nicht eins mit der Natur, mit der Schöpfung; wir versuchen mit mehr oder weniger gutem Erfolg, die Natur zu beherrschen, spalten alles in Subjekt und Objekt – ich bin hier, du bist da draußen. Das Salzkorn im Wasser wäre genau das Gegenteil. Wirfst du ein Salzkorn ins Wasser, dann löst es sich auf. Der Stein und das Wasser können sich nie verbinden, Salzkorn und Wasser hingegen werden nach kurzer Zeit eins. Das ist ein Gleichnis für einen Menschen, der sich alleins fühlt wie der erste Chinese, eins mit der Schöpfung, mit der Natur, mit den Menschen um ihn herum, und dieses ozeanische Gefühl entspricht einer tiefen Sehnsucht in uns allen. Es geht hier um das Glück, das man nicht mit Namen nennen kann, wie Hermann Hesse es formuliert hat. In bestimmten Momenten des Lebens wird man vielleicht dieses Salzkorn sein können, in Momenten absoluter Stille, in der Meditation oder wenn man allein in der Natur ist und sich auf einmal mit jedem Grashalm, mit jedem Baum verbunden fühlt, wenn man einen Spaziergang am Meer macht oder eine wunderschöne Musik hört und dabei Zeit und Raum vergisst oder wenn man tanzt oder in einer liebevollen Begegnung, die keine Worte mehr braucht, in der eine gemeinsame Schwingung, eine Seelenverwandtschaft zu spüren ist; auch in der Sexualität, wenn völlige Verschmelzung stattfindet. Die Möglichkeiten, dieses ozeanische Gefühl zu erleben, sind vielfältig. Um das Salzkorn im Wasser geht es, wenn wir das Zeichen Fische näher betrachten.
Das Tuch im Wasser symbolisiert den »normalen« Menschen; jeder von uns ist so ein Tuch mit unterschiedlich großer Durchlässigkeit für ozeanisches Erleben. Unsere innere Entwicklung bestimmt die Durchlässigkeit dieses Tuches. Es gibt Momente, in denen der abgrenzende Aspekt im Vordergrund steht, und andere, in denen wir heimkommen, das Einssein wieder spüren.
Der Kreis schließt
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