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Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)

Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)

Titel: Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
Autoren: Claus Riemann
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aussagekräftiges Bild dafür. Ich kenne viele Fische-betonte Menschen, die sich aus Liebe zu Vater, Mutter oder wem auch immer ihre eigene Handlungsfähigkeit nehmen lassen, die vor lauter Verständnis für die Standpunkte anderer sich nicht das Recht auf ihren eigenen nehmen, auf das Wort »Ich« oder gar »Ich will«. Da kann das Motto lauten: »Lieber ich als du«, das heißt, lieber geht’s mir schlecht, als dass ich zusehen muss, dass du leidest. Im Extremfall: Lieber sterbe ich als du.
    Ein ähnliches Motiv findet sich in dem chinesischen Märchen Das Heimweh . Hier schneidet sich der mitfühlende Sohn ein Stück Fleisch aus dem Bein, um die todessehnsüchtige Mutter damit zu nähren, die allerdings trotzdem kurz darauf stirbt. Im Gegensatz zu Parzival, der sich nicht nach Herzeloide umdreht, hat ein Fische-betonter Sohn die Tendenz, sich der Mutter zuliebe ins eigene Fleisch zu schneiden, sich selbst »bewegungsunfähig« zu machen.
    Hier ist es wichtig, sich mit Sinn und Unsinn des Verstehens auseinanderzusetzen. In Therapiegruppen habe ich oft erlebt, dass Fische-betonte Menschen, denen in der Kindheit Schlimmes widerfahren ist, die zum Beispiel vom Vater geprügelt wurden, nicht fähig waren, Wut auf diesen Vater zu erleben. Selbst dann, wenn sie grün und blau geschlagen wurden, empfanden sie noch tiefes Mitgefühl mit dem Vater. Sie können nachvollziehen, welch schweres Leben er gehabt haben muss, wenn er sich nicht anders zu helfen weiß als durch Brutalität. Wie muss er erst misshandelt worden sein in seiner Jugend! Da wird der Täter sozusagen zum Opfer, denn als Fisch hat man prinzipiell die Tendenz, im Mitmenschen eher den Leidenden, das Opfer seiner Lebensgeschichte zu sehen und nicht den brutalen Täter. Diese Haltung ist zwar weise und liebevoll; wenn hier nicht der Gegenpol mit einbezogen wird, kann sie einen jedoch zum Märtyrer machen, der immer die andere Backe hinhält, jedem Menschen gestattet, ihn zu missbrauchen, ihm die Hände abzuhacken, wenn dieser nur an sein Verständnis appelliert.
    Nun bin ich selbst ein Fisch und mit dieser Thematik seit jeher vertraut. Mir hat allerdings ein ganz simpler Satz eines befreundeten Therapeuten, Jens Corssen, sehr geholfen, der heißt: »Verstehen ist der Trostpreis.« Noch etwas könnte man vielleicht als Warnung für einen allzu einseitigen Fisch vorbringen: Wenn du in einen Raum gehst, in dem neun Leidende sind, und du meinst, gleich mitleiden zu müssen, dann ist der einzige Erfolg der, dass es jetzt zehn Leidende sind. Hier ist noch einmal hervorzuheben, dass Fische-betonte Menschen die Begabung, aber auch das Problem haben, sich immer durch die Augen der anderen zu sehen, sich mit deren Standpunkt zu identifizieren und sich selbst nicht mehr zu spüren. Was hier heilt, ist der weise Therapeuten-Satz: »Ich höre dich und spüre mich.« Das heißt: Ich kann deine Welt und all das, was dazugehört, verstehen, aber ich spüre auch mich in meiner Welt, ich habe dasselbe Recht auf meinen Standpunkt, wie ich dir dieses Recht auf deinen Standpunkt zugestehe. Sonst entsteht eine Einseitigkeit, die anders ist als bei den Feuerzeichen, bei denen die Grundhaltung ist: Ich bin okay, und im Zweifelsfall bist du nicht okay, denn ich bin ja das göttliche Wesen, an mir kann’s nicht liegen, wenn etwas schiefgeht. Auf der Fische-Ebene ist die Tendenz im Zweifelsfall die Haltung: Ich bin nicht okay, du hast sicher Recht mit deinem Standpunkt, ich verstehe dich, entschuldige bitte, wenn ich dich verletzt haben sollte. Bei dieser Bereitschaft, sich vereinnahmen zu lassen, sich beeinflussen zu lassen von den Erwartungen und Seelenströmungen und Schicksalen anderer Menschen bis hin zur Überschwemmung, ist es geradezu lebensnotwendig, immer wieder die Einsamkeit aufzusuchen, wo von außen keine Strömung mehr auf das Magnetnadelpaar einwirkt, um bei diesem Bild zu bleiben. Nur dort kann man sich selbst wieder finden.

Uraschimataro, der Sohn der Insel
    Es war einmal ein altes japanisches Ehepaar, das hatte einen einzigen, sehr geliebten Sohn, den schönen, tapferen Fischer Uraschimataro. Eines Tages geht ihm eine kleine Schildkröte ins Netz, die ihn anfleht, ihr die Freiheit zu schenken. »Ich bin so jung und klein«, jammert sie, »aber eines Tages werde ich es dir danken können, wenn du mich verschonst.« Der gutherzige Uraschimataro kann schlecht nein sagen und wirft sie zurück ins Meer. Jahre später gerät er mit seinem Boot in einen schrecklichen
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