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Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)

Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)

Titel: Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
Autoren: Claus Riemann
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Wirbelsturm, das Boot zerschellt, und Uraschimataro ist kurz vor dem Ertrinken, als eine große Schildkröte auf ihn zuschwimmt und ihm zuruft: »Du hast mir das Leben geschenkt, und heute will ich dir das danken. Steig auf meinen Rücken, und ich trage dich, wohin du willst.« Die Schildkröte schlägt Uraschimataro vor, ihm die Wunder des Meeres zu zeigen, und er lässt sich von ihr drei Tage und drei Nächte tragen, bis sie vor einen wunderschönen Glaspalast kommen. »Das ist das Schloss des Salzwassergottes«, sagt die Schildkröte, »und ich bin die Kammerzofe seiner Tochter, der Prinzessin Otohime.« Otohime verliebt sich sogleich in den schönen Fischer und bietet ihm an, für immer bei ihr zu bleiben: In ihrem Schloss würde er nie altern.
    Eines Tages wird Uraschimataros Heimweh jedoch so groß, dass er die Prinzessin bittet, ihn ein einziges Mal zu seinen Eltern gehen zu lassen. Die Prinzessin weiß, dass es ein Abschied für immer sein wird, aber sie lässt den Fischer ziehen und gibt ihm eine kleine Dose mit, die er nie öffnen darf, wenn er jemals zurückkommen will. Uraschimataro lässt sich von der Schildkröte in sein Dorf bringen, doch als er dort ankommt, erkennt er nichts wieder. Schließlich findet er das Grab seiner Eltern, und ihm wird voller Schrecken klar, dass er dreihundert Jahre fort war. In der Hoffnung, alles ungeschehen zu machen, öffnet er die Dose. In diesem Moment verändert sich seine Hand, er läuft zum Bach, und in seinem Spiegel sieht er: Er ist zu einem uralten Mann geworden. Uraschimataro geht ans Ufer und ruft vergeblich die Schildkröte. Stattdessen versammeln sich die Dorfbewohner um ihn, und er erzählt ihnen sein Leben. »Seid still«, sagen die Eltern zu ihren Kindern, »dieser weise Mann hat all die Reichtümer des Meeres aufgegeben und die schönste aller Frauen verlassen, um seine Eltern wiederzusehen.« Uraschimataro lebte noch eine Weile, lange genug, ein paar Verse zu schreiben und ein paar Lieder zu dichten. Er erzählte darin von seinem Leben unter dem Wasser, von dem silberweißen Glaspalast des Salzwassergottes und von Otohime, seiner lieblichen Tochter. Seine Lieder machten ihn unsterblich.
    Uraschimataro ist schon deshalb ein Fische-Vertreter, weil er Seefahrer ist. Seine Reise in die Unterwasserwelt entspricht der Reise in die innere Welt, dem Abtauchen ins Unbewusste. Das Schonen eines (meist später hilfreichen) Tieres ist im Märchen ein häufiges Motiv, der Märchenheld muss Mitgefühl mit der Schildkröte entwickeln, anstatt an Schildkrötensuppe zu denken. Auch hier finden wir wieder die so wichtige Bedingungslosigkeit: Wenn wir wüssten, die Schildkröte rettet uns später aus höchster Gefahr, würden wir alle sie wieder freigeben. Das Entscheidende ist aber, dass man es nicht weiß. Es geht darum, im Moment, aus Mitgefühl, auf einen naheliegenden Vorteil zu verzichten, zu geben, ohne dafür etwas zu erwarten. Die paradiesische Unterwasserbeziehung mit Otohime schweren Herzens wieder zu verlassen, trotz des Versprechens ewiger Jugend, ist für Uraschimataro eine psychische Heldentat, aber nur dadurch wird es ihm möglich, die Gedichte und Lieder zu schreiben, die ihn im reifen Sinne unsterblich machen. Der wahre Märchenheld hat, wie schon gesagt, die Aufgabe, Welten zu verbinden, und hier muss sich der Fische-Held auf den Gegenpol, das Erdzeichen Jungfrau, beziehen. Der Reichtum und die Schönheit der anderen Welt, der Unterwasserwelt, werden durch die Lieder, die er schreibt, die Geschichten, die er – weise geworden – den Kindern am Strand erzählt, auch in die irdische Welt getragen und kommen anderen zugute.

Mond in Fische
    Das Mutterbild ist hier die mediale Frau, die Grenzgängerin, die Mittlerin zwischen Bewusstem und Unbewusstem: hellhörig, feinfühlig, intuitiv. Diese Mütterlichkeit ist empfindsam und sensibel für die Bedürfnisse, Wünsche und Seelennöte des Kindes, diese Mutter ist mit ihrem Kind so symbiotisch verbunden, dass ihr zum Beispiel das Knie wehtut, wenn das Kind zehn Kilometer weiter weg mit dem Fahrrad stürzt (diese Geschichte hat mir eine Fische-Mond-Mutter erzählt). Die ozeanische Fische-Liebe kann Zeit und Raum überwinden. Ein Fische-Mond-Mensch kann sich mit jemandem ganz eng verbunden und nah fühlen, der sich in einem anderen Erdteil befindet oder schon gestorben ist. Wir haben es hier mit einer Liebesenergie zu tun, die jede Form von Getrenntheit überwindet. Diese Liebe ist irrational, man kann sie nicht
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