Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)

Manchmal muss ein alter König den Thron verlassen, vielleicht sterben, bevor ein jugendlicher Held mit frischer Lebenskraft diesen Thron besteigen kann und das Königreich dadurch erneuert wird. Als inneres Drama, auf der Subjekt-Stufe, bedeutet das, dass wir alle ausnahmslos immer wieder bereit sein müssen, einen inneren König zu verabschieden, damit wir nicht versteinern, nicht rigide werden, lebendig bleiben. Aber gerade mit Stier-Sonne ist das Verabschieden des alten Königs nicht leicht; es läuft oft als große Krise mit Existenzängsten und Entwurzelungs-Erfahrungen ab, und ich habe den Eindruck, dass die Stier-Könige länger auf dem Thron bleiben als alle anderen Könige des Tierkreises, ausgenommen vielleicht Steinbock.
    Ein weiteres wichtiges Moment in der Vaterbeziehung ist Sinnlichkeit. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Stier-Kind einen Vater hat, der ihm zeigt, wie man seinen Körper bewohnt, Sinnlichkeit lebt, oder ob der Vater nur im Kopf lebt, an dem dummerweise noch ein Körper dranhängt. Man will den Vater spüren, ihn auch mal umarmen dürfen. Wenn der Vater körperfeindlich ist, dann ist das für die sinnlich-dionysischen Stier-Kinder besonders schwierig. In solchen Fällen ist es im Lauf der Entwicklung wichtig, diese Körperlichkeit, diese Sinnlichkeit, die Art von Weisheit, die im Körper wohnt, zumindest für sich selbst zu finden und zu entwickeln, zum Beispiel mit Hilfe von körperorientierten Therapieformen.
    Wenn man später selbst Vater wird, seinen inneren König entdeckt, ist es wichtig, ein treuer, nährender Vater zu sein, der da ist, sich zuständig fühlt, der seine Kinder nicht im Stich lässt, wobei auch Kinder im symbolischen Sinn gemeint sind, zum Beispiel Untergebene, Schutzbefohlene oder die Pflanzen im Garten. Es ist sicherlich manchmal schwierig, Kinder gehen zu lassen, loszulassen. »Du bist mein Sohn, meine Tochter« – auch das ändert sich niemals wirklich, selbst wenn die Kinder schon erwachsen sind. Als Kind solcher Eltern entsteht das schöne Gefühl, dass immer jemand für einen da ist, dass man immer willkommen ist daheim, zugleich besteht die Gefahr des regressiven Sogs, wodurch die Eigenentwicklung des Kindes blockiert und ihm nicht gestattet wird, das alte Königreich zu verlassen. Dann hört man sehr oft den vorwurfsvollen Satz: »Du hast dich so verändert.«
    Schwierig wird es auch, wenn ein Stier-Vater Kinder hat, die er als instabil oder wirklichkeitsfremd empfindet, als unfähig, sich ihre eigene Burg zu bauen, in der materiellen Welt zu überleben. Denn diese Fähigkeiten erwartet eine Stier-Autorität, ein Stier-König von seinen Kindern, er will sie dazu erziehen, dass sie lebenstüchtig werden, sich in der irdischen Welt zurechtfinden können, ihr eigenes Geld verdienen. Diese Haltung kann sich auch dergestalt äußern, dass in der Vater-Kind-Beziehung, oder überhaupt in einer Stier-betonten Familie ganz allgemein, der Materialismus eine sehr große, wenn nicht übergroße Rolle spielt. Die Beziehungen können dann sehr stark über Käuflichkeit definiert werden – »Was bekomme ich dafür?«. Und das wiederum kann eine Belastung darstellen für spätere Beziehungen, wenn es um die Energie des Herzens geht, also gerade um das, was nicht berechnet oder gekauft werden kann.

Venus in Stier
    Venus kann wie jeder Planet in allen zwölf Tierkreiszeichen stehen und definiert zwölf Gesichter der Schönheit, zwölf verschiedene Frauenbilder, zwölf Beziehungsmodelle, zwölf Definitionen von Liebe und dem Weg dorthin. Das Frauenbild, das Stier-Venus entspricht, ist die sinnliche, blühende, körperbezogene Erdfrau. Eine Stier-Frau könnte man sich etwa so vorstellen wie die Herrscherin, die auf den Tarot-Karten von Rider-Waite auf der dritten Karte der Großen Arkana dargestellt ist, inmitten einer üppigen Naturlandschaft.
    Das Beziehungsmodell, das zu Stier-Venus gehört, ist eine auf Dauer angelegte Beziehung, in der man vor allem Verwurzelung erleben kann. Hier zählt nicht nur der Zauber des Augenblicks, hier lautet das Motto eher: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute miteinander. Das Modell ist hier eine »Beziehungsburg«, die darauf basiert, dass man sich aufeinander verlassen kann, miteinander etwas aufbaut, bereit ist, gemeinsam alt zu werden. Eine tragfähige Beziehung zu beschützen und zu bewahren, das sind die Qualitäten dieser Stier-Venus; im negativen Sinn kann das natürlich auch zu einer versteinerten