Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)

wieder auf eine Wandlungserfahrung ein und erfährt, dass es trotz aller Wandlungen etwas in einem gibt, was unveränderlich ist, dass man sich eine Treue zum eigenen Wesen bewahren kann, ohne zu versteinern. Und vielleicht erlebt man dadurch eine Ahnung von dem, was nie stirbt, was wirklich sicher ist, was wirklich unvergänglich ist und nichts mehr mit der äußeren, der materiellen Welt zu tun hat.

Zwillinge

Der Rabbi
    Vor einigen Jahren begegnete ich bei einer Tagung einem alten Philosophen, mit dem ich dann noch lange am Tresen saß und Welträtsel löste. Er hatte eine Zwillinge-Sonne, und ihm verdanke ich die sehr Zwillingehaften Worte: »Weißt du, das Wort Wahrheit gebrauche ich schon lange nicht mehr. Ich sage nur, es gibt viele Geschichten über das Leben.« Er erzählte mir auch gleich eine solche Geschichte: Ein Ratsuchender kommt zu einem Rabbi und fragt ihn: »Rabbi, leben wir das Leben mehr aus uns heraus oder in uns hinein?« Die Antwort des Rabbi: »Wenn du mich so fragst, ja.«

Die Frühlingswiese
    Wenn wir nun wieder den Zugang zur Energie, zur Seele des Tierkreiszeichens Zwillinge im Kreislauf der Natur suchen wollen, müssen wir uns den letzten Frühlingsmonat vergegenwärtigen. Kriyananda bezeichnet ihn als den Monat, in dem die jungen Pflanzen sich verzweigen, und in diesem Zusammenhang ist es stimmig, dass das deutsche Wort Zweig sich von der Zahl zwei herleitet und dass die römische Zahl Zwei wiederum das Zwillinge-Symbol ist. Stimmung und Energie der Natur sind in dieser Phase tendenziell heiter, leicht und bunt. Menschen, die stark Zwillinge-betont sind, sehen in ihren inneren Bildern oft Frühlingswiesen mit vielen Schmetterlingen als ihr Sehnsuchtsbild oder Kraftbild. In der indianischen Astrologie ist der Schmetterling auch das Tier, das Zwillinge zugeordnet wird.

Die Lunge
    Jedes Tierkreiszeichen hat, wie gesagt, eine Entsprechung im Körper, Zwillinge repräsentiert dabei die Lunge des kosmischen Menschen. Was heißt das? Zunächst hat die Lungenfunktion mit Austausch und Kommunikation zu tun: Einatmen und ausatmen verbindet mich mit der äußeren Welt. Oskar Adler, der die Sonne im Zeichen Zwillinge hatte, setzte den Atmungsvorgang mit dem dialektischen Erkenntnisprozess gleich, der nach dem Prinzip funktioniert: These-Antithese-Synthese. Auf die Atmung übertragen heißt das: einatmen, ausatmen, kurzer Ruhepunkt vor dem nächsten Einatmen. Im Zwillinge-Sinne führt das zu dem Schluss: Wenn du glaubst, die Wahrheit gefunden zu haben, bist du tot. Dann hast du aufgehört zu atmen. Das heißt, du musst immer wieder einatmen, ein »Ja-aber« finden, eine neue Frage, um geistig lebendig zu bleiben. Die Aufgabe als wandelnde Lunge in deinem Umfeld wäre damit, die Welt geistig in Atem zu halten, mit anderen Worten: Kommunikation in jeder Form.
    Für den echten Zwillinge-Menschen ist das Leben eine einzige große Schule, in der er sich lebenslang als Schüler oder Schülerin begreift. Dieses Motiv ist natürlich nicht auf die Institution Schule beschränkt, denn jede Lebenssituation beinhaltet eine Möglichkeit zu lernen. Mit zunehmendem Alter entstehen hier meist der Wunsch und die Möglichkeit, selbst Mittler von Erfahrungen zu werden, etwa als Lehrer.

Der Zweifler
    Die Symbolik der Zahl zwei ist hier besonders interessant. Bei Zwillinge geht es nie um eindeutige Wahrheiten, sondern immer um das Doppelgesicht der Wahrheit. Das Leitmotiv ist das des Zweiflers. Hierzu eine Geschichte: Irgendwo in Indien lebt ein ehrwürdiger Meister der Meditation, der täglich von Schülern aufgesucht wird, die bei ihm ihre Übungen machen. Eines Tages kommen sie zu ihrem Meister, und der steht auf dem Kopf und meditiert. Die Schüler fragen ihn: »Meister, warum tust du das?« Und er sagt:»Erst jetzt, da ich auf dem Kopf stehe, leuchtet mir die Wahrheit in ihrer Ursprünglichkeit ins Angesicht.« Was tun da fortan die braven Schüler? Sie stellen sich auch alle auf den Kopf und meditieren monatelang in dieser Position. Eines Tages kommen sie wieder zu ihrem Meister, und der sitzt aufrecht. Verwirrt fragen sie ihn: »Meister, du hast doch gesagt, man sieht die Wahrheit nur, wenn man auf dem Kopf steht!« Und er sagt: »Erst jetzt, seit ich wieder aufrecht sitze, leuchtet mir die Wahrheit in ihrer Ursprünglichkeit ins Angesicht.« Da werden die Schüler wütend und beschimpfen ihn, er sei vom rechten Weg abgekommen oder vielleicht senil geworden, doch da sagt der Meister noch einen Satz zu ihnen: